Alles weiß man nicht, ganze Berge von Fragen sind offen zum Leben von Bertha Wehnert-Beckmann, die am 25. Januar 1815 geboren wurde und die seit Sonntag auch die ihr gebührende Ausstellung zum 200. Geburtstag im Stadtgeschichtlichen Museum hat. Und den zugehörigen Begleitband, in dem 100 ihrer Fotos ganzseitig zu finden sind. Und sieben Texte, in denen die Autoren verscuhen, sich dem großen Rätsel zu nähern: Wer war, verflixt noch mal, diese Frau?
Man weiß es nicht. Trotz der großen Monografie von Jochen Voigt “A German Lady. Bertha Wehnert-Beckmann. Leben und Werk einer Fotografiepionierin”. Trotz der dreijährigen Recherchen in allen möglichen Archiven. Trotz der rund 3.500 Glasnegative und 83 Daguerreotypien, die im Stadtgeschichtlichen Museum versammelt sind. Das Wichtigste fehlt. Und bringt die Forscher zum Grübeln: Wie war das mit dem Bürgerrecht? Warum kam es überhaupt zu den Streitereien mit den Leipziger Behörden? Warum ging sie nach Amerika? Warum kam sie überhaupt wieder zurück? Hat sie nun die Elite New Yorks fotografiert? Oder doch nur Kopien? Und wie hielt sie es mit der Frauenemanzipation?
Die sieben Beiträge im 240 Seiten dicken Begleitband stecken voller solcher Fragen. Manche versuchen eine Antwort. Aber die schlichte Wahrheit ist: Man weiß es nicht. Weil die Belege fehlen. Weil fast alles fehlt zu dieser Frau, die 1843 nach Leipzig kam, 28 Jahre jung, würden wir heute sagen, in eine Stadt, die schon damals das rebellische Herz des Königreichs Sachsen war. Das Herz des rasant wachsenden Eisenbahnnetzes sowieso. Die Beschaulichkeit in vielen ihrer Bilder trügt. Leipzig war – verglichen mit der Zeit von 1839, eine immer mehr an Tempo gewinnende Stadt. Und eine, in der die wichtigsten Leute allesamt aufgeschlossen waren für das Neue. Und dazu gehörte auch die Fotografie, die ganz zu Anfang noch von der Daguerreotypie dominiert wurde. Natürlich findet sich auch ein kurzer Ausflug in die frühe Geschichte der Fototechnik im Buch. Der auch klar macht, wie früh die junge Frau aus Cottbus dran war mit ihrer Begeisterung für die neue Technik.
Das Wörtchen “piefig”, das Museumsdirektor Volker Rodekamp so genüsslich für das Leipzig des Jahres 1850 in den Mund genommen hat, geht einem einfach nicht aus dem Kopf. War dieses Leipzig auch nur ansatzweise piefig? Auch im Vergleich mit dem zehn Mal größeren New York, wohin es die nun verheiratete und schon wieder verwitwete Bertha 1849 bis 1851 verschlug? Immerhin – das muss Tobias Brinkmann ja in seinem Beitrag zum New-York-Aufenthalt erwähnen – in einer Zeit, als die Emigration aus Deutschland neue Spitzenwerte erreichte, denn die Revolution von 1848/1849 war ja bekanntlich gescheitert. Und nicht nur die 48er flohen in Scharen ins gelobte Land. Die Bauern aus Süddeutschland genauso, die armen Sachsen noch nicht so sehr. Aber die Revolution war ja nicht nur ein Ereignis für aufmüpfige Kapellmeister. Hier ging es um den Druck, der längst im Kessel war: Das Flickendeutschland des Vormärz brauchte zwingend die politischen Formen, die ein moderner Industriestaat brauchte. Revolutionen passieren nicht, weil ein paar Extremisten auf die Barrikaden gehen, sondern weil wirtschaftliche und soziale Zustände nicht mehr auszuhalten sind.
Aber wo ordnet sich da die Amerika-Fahrt der Bertha Wehnert-Beckmann ein? Wollte sie wirklich nur ein zweites Standbein aufbauen in New York – neben ihrem durchaus florierenden Studio in der Burgstraße 8 in Leipzig? Das auch deshalb florierte, weil das Leipziger Bürgertum sich wiederfand in diesem neuen Medium. Hier konnte man seinen Stolz zeigen, sein neues Selbstbewusstsein. Wobei Dorothea Peters durchaus die Frage stellen darf: War es nicht andersherum? Hat das neue Bürgertum sein Selbstbewusstein nicht gerade erst durch das neue Medium entwickelt?
Im reichen Bildteil im Buch spricht manches dafür. Und auch dafür, dass Bertha Wehnert-Beckmann ein Talent hatte, die Abgebildeten aufzuschließen für das neue Medium. Selbst heute so Berühmte wie Peter Joseph Lenné, der im ersten Bild noch finster vor sich hin zu starren scheint – ein absoluter Griesgram, – im zweiten zeigt er sich ein bisschen lockerer und lächelt sogar ein bisschen.
Man vergisst es so leicht, dass man es hier tatsächlich mit der Frühzeit der Fotografie zu tun hat, als die Abgelichteten noch minutenlang still halten mussten, bis das Bild im Kasten war. Da bleibe mal einer locker und bewahre Haltung.
Fast 40 Jahre Fotografiegeschichte umfasst das Lebenswerk von Bertha Wehnert-Beckmann. Das war in der Fotografietechik auch damals ein Zeitalter mit mindestens drei, wenn nicht gar vier technischen Revolutionen, die die technikbegeisterte Fotografin alle mitging. Von der Daguerreotypie bis zum Glasnegativ. Jedes Mal ging es schneller – das Belichten genauso wie das Entwickeln. Das ganze 19. Jahrhundert war von dem Ausruf “Tempo! Tempo!” überschrieben. Ohne dass seine Bewohner ahnten, wieviel Tempo erst noch das 20. Jahrhundert auflegen würde. Im Nachhinein sieht das alles gemächlich aus. Auch weil sie alle minutenlang still halten mussten vor Berthas Kamera: der künftige Oberbürgermeister Carl Bruno Tröndlin, der Verleger Christian Bernhard von Tauchnitz, die Sängerin Livia Frege, achja, auch Carl Erdmann Heine, der Mann, der Leipzigs Westen zum Qualmen brachte. Und der Bertha die 3.700 Quadratmeter Wiese verkaufte, auf der sie später ihr unverwechselbares Palais erbauen ließ. Auch zu diesem Schmuckstück und seiner Entstehungsgeschichte gibt es einen ausführlichen Beitrag im Buch von Bernd Sikora, der – bester Kenner des damaligen Leipziger Westens, einmalig anschaulich erklärt, warum sich die Baupläne immer wieder änderten und was das mit Carls Heines Dampfschiffkanal zu tun hatte. Denn nicht nur der japanische Pavillon stand ja unter Berthas neuem Fenster, auch die Dampfschiffe, mit denen Heine den Plagwitzer Knack anlandete, tuteten hier. Barthas neues Atelier lag also mitten in einem Quartier, das ein klein wenig das Weltstadtflair von New York hatte. Hier ging die Post ab. Und Carl Heine ließ sich wie ein echter weltmännischer Zampano von Bertha ablichten – Zigarre natürlich in der Hand.
Da konnte auch Hauptmann Cerrini vom 4. Jägerbataillon nicht mithalten, obwohl für seine Jagdflinte extra eine Halterung gebastelt wurde, Emil Beyer schon eher, Fabrikant aus Lindenau, der schon mal zeigte, dass mutige Männer auch mal Weiß tragen können für die Weltreise.
Aber von Vielen der so staatlich dreinschauenden Persönlichkeien fehlen die Namen, auch wenn manchem Bild durch fleißige Recherche jetzt einer zugewiesen werden konnte. Das erzählt ein wenig von den Fehlstellen in der Geschichtsschreibung auch fürs 19. Jahrhundert: Man kennt nur einen Teil, ein paar Ausschnitte. Hier liegt noch jede Menge Material für die Forscher, die sich für dieses Leipzig der Dampfzeit interessieren und die wissen wollen, wer damals eine Rolle spielte in einer Stadt, die in rasendem Tempo wuchs. Und wo es für viele Leipziger lange zum guten Ton gehörte, zu Bertha ins Studio zu pilgern und sich fürs Familienfoto zu inszenieren. Die Technik zwang noch zum Inszenieren. Und passte deshalb auch so gut zur Gründerzeit.
Doch über das Leben der Fotografin wissen wir nichts. Es sind fast nur Akten, die über dieses Leben berichten und indirekt schließen lassen auf die Person, von der zumindest zu ahnen ist, dass sie selbstbewusst und energisch war und wusste, wie man ein kleines Unternehmen führt. Und wie man sich nicht unterkriegen lässt. Inwiefern sie die Frauenbewegung ihrer Zeit interessierte, darüber kann auch Susanne Schötz nur spekulieren. Dass sie Hunde mochte, das wissen wir. Sonst wäre ja Pluto nicht mit auf dem Foto, auf dem sich die Fotografin selbst zeigt.
Der große Bildteil im Buch gibt einen Eindruck von der Entwicklung, die die Technik zwischen 1843 und 1881 genommen hat. Auch vom Erhaltungszustand der Bilder und den manchmal nicht einfachen Versuchen, die Menschen in die richtige Pose zu bringen. Immerhin waren sich einige davon sehr wohl bewusst, dass es bei Bertha um das Posieren für künftige Generationen ging. Der Schriftsteller Gustav Freytag wusste es wohl, der weitgereiste Friedrich Gerstäcker auch und das russische Komponiergenie Anton Rubinstein auch. Da setzte sich ein neues Zeitalter in Pose, wissend, dass es gerade modern war. Auch in seiner manchmal erschüttternden Unmodernität.
Aber das ist ja ganz wie heute.
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