Sascha Heße ist Komponist, Philosoph, Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er lebt als Musiker, Schriftsteller und - achja - Aphoristiker in Leipzig. Ist ja auch eine Stadt, die zu zugespitzten Worten geradezu herausfordert. Da muss nicht einmal der Haufen der Selbstgerechten demonstrierten, als hätte er gerade die Welt erfunden. "Viele kommen nie zur Vernunft, weil sie immer nur warten, dass die Vernunft zu ihnen kommt." Schreibt Heße.
Für seinen neuen Aphorismenband hat er die Worte ein bisschen durchgeschüttelt. Aus Grenzenlose Freiheit wurde Grenlofrei Zenseheit. Das Futter, das er braucht, liegt auf der Straße. Oder in der Luft. Man muss es nur aufsammeln, begutachten und zufrieden in die ausgebeulten Taschen der Jacke stecken. Im Kopf fügt sich alles. Manchmal verhakt sich eine Floskel. Davon haben wir ja tausende in Gebrauch, manche so abgenutzt, dass wir gar nicht mehr wahrnehmen, wie billig sie sind. Und dass sie trotzdem ein paar Widerhaken haben – an denen sich ein reger Geist wie Heße festhaken kann.
Dazu braucht man Freiraum im Kopf. Stimmt. Die Fähigkeit zum freien Denken. Das will geschult sein. Und es ist selten geworden, wenn man manche Mitmenschen auf der Straße so hört. Das Straßenmurren ist ja nicht neu, dieses lautgewordene Beleidigtsein des überforderten Gemüts. Woher kommt das? Zumindest nicht aus dem Nichts. Es war auch in Leipzig immer zu hören, Teil des großen Hintergrundrauschens, in dem sich das große Geplapper vermischt – das kluge, das fröhliche, das betrunkene, das wehleidige, das arrogante, das ignorante, das triumphierende und das nichtsmerkende. Und und und.
Man kann sich den Burschen schon gut vorstellen, wie er mit Kopfschmerzen in so einer Leipziger Straßenbahn sitzt und innigst zum Himmel betet: Herr, lass es Hirn regnen!
Und sich gleichzeitig auf sein heimlich hinter der nächsten Ecke gezücktes Notizbuch freut. Wieder was gefunden. Es lag eigentlich auf der Hand. Aber das Naheliegende sehen wir meist nicht, weil wir die Kulissen für wichtiger halten als den Inhalt. Deswegen gibt es bei Heße eine Menge bissiger Wortspiele rund um den geplagten menschlichen Verstand. Da kommt Wunderbares heraus. Manchmal. So etwas zum Beispiel: “Ein Problem so lange begrübeln, bis es Grübchen bekommt und zu lächeln beginnt.”
Das ist quasi das Geschwisterchen zu dieser leider ebenso wahren Erkenntnis: “Die Gesprächigkeit vieler Menschen ist leicht zu erklären: Reden stört beim Denken.”
Man muss nicht weit blättern, um zu merken, dass Heße ein Ururur-usw.-Enkel ist vom seligen Georg Christoph Lichtenberg, der uns mit seinen Sudelbüchern das Drumherumdenken beibrachte. Und das betrachten des Witzes als lebendigen Funken im Kopf. Was nicht ganz ungefährlich ist. Das wusste der selige Professor genauso wie sein jüngster Jünger. Sasche Heße: “Strohköpfe können sich glücklich schätzen, wenn sie von Geistesblitzen verschont bleiben.”
Heße übt sich in einer Kunst, von der man eben noch annehmen durfte, dass sie am Aussterben wäre. Fast schienen die neueren Unterhaltungs- und Süßer-Brei-Medien alles zu ersäufen in ihrer Flut des bunten Banalen, das für Denksport keinen Platz mehr ließ. Dafür regierte der Unsinn und zelebrierte sich mit einem unheimlichen Ernst. Auch das gesehen und gehört auf Leipzigs Straßen.
Das Büchlein – hübsch in sieben Kapitel gegliedert – liest sich stellenweise wie ein liebevoller Kommentar zum Tag. Als hätte Heße im letzten Jahr schon einmal die Narreteien des heutigen vorweggenommen. Obwohl es natürlich die Narreteien der grämlichen Vergangenheit sind. Er kennt seine Pappenheimer und Schwerenöter: “Es erleichterte ihn, sich zu beschweren.”
So kann man mit den schönen Vieldeutigkeiten der deutschen Sprache umgehen. Die eine schöne, weil verspielte, Sprache ist es, die man beschützen muss, insbesondere vor den Deutschländlern, den griesgrämigen Rechtbehaltern. Heße: “Nationalität: Ichländer”. So kurz kann das sein. Ein Volltreffer.
Das steht übrigens im Kapitel “Müllabfuhr”. Das scheint ein wenig all den Narren der Gegenwart zu gelten, die, wie es aussieht, die Welt regieren – und sie damit in ein Klosett verwandeln: “Was für ein Geschäft! – Er saß auf einem Haufen Geld.”
Er braucht keine langen Traktate, um die erlebte Gegenwart auf ihren Punkt zu bringen und unsere falschen Vorstellungen vom Leben sowieso. Mancher muss ja erst ein Leben beim Psychiater zugebracht haben, bevor er sich eingesteht: “Was dein Lebenslauf verschweigt, bist du.”
Grenlofrei Zenseheit
Sascha Heße, Leipziger Literaturverlag 2014, 16,95 Euro
Es kommt so einfach und trocken daher, dass man oft schon drei Seiten weiter ist, bis einen die Pointe trifft. Meistens mitten auf die Nase. Das hilft auch ein bisschen gegen die Krankheit Illusion: “Die Normalen befolgen die Normen, die Unnormalen stellen sie auf.”
Das hätte manch Arzt nicht besser sagen können als Diagnose für eine Zeit, in der so viele auf ein Wunder zu warten scheinen, während sie sich brav fügen in das, was scheinbar unausweichlich ist: “Sie hatte ihr Leben im Griff – im Würgegriff.”
Oder wie wäre es mit diesem schönen Trost: “Das Leben ist immer der Rest, der davon übrigbleibt.”
Heße beherrscht die alte Kunst der Wortspiele, die kein Spiel sind, sondern ernsthafte Arbeit. Denn die kurzen Stücke zünden ja erst, wenn man den Kitt nicht mehr sieht und gefeilten Stellen. Gepfeilte Stellen, hätte Heße geschrieben. Denn wer als Aphoristiker nicht trifft, hat’s vermasselt. Schnell geht da gar nichts, weil nicht nur die Beherrschung der Sprache zwingend ist, sondern auch ein kleiner Kopf-Kosmos aus Wissen und ein bisschen zugelassener Lebenserfahrung. Denn wer in seinem Leben nicht gelernt hat zu leben, der hat ein Problem. Ein echtes. Kleiner Rat noch am Ende: “Wer sich Zeit lassen will, muss sich vorher Zeit nehmen.”
Am liebsten würden wir hier noch seitenweise zitieren. Aber der Rest steht in dem kleinen von Patrick Zehrer illustrierten Büchlein. Man bekommt scheinbar recht wenig Buch fürs Geld. Aber beim Blättern wird jeder merken: Das Geld ist besser angelegt als für die üblichen 1.000-seitigen Romane. Hier gibt es viel schönere Abgründe, Hinterhalte und spitze Überraschungen. Und man blättert gern und oft zurück oder fängt von vorne an. Denken kann so viel Spaß machen, wenn man es sich wieder erlaubt.
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