Was passiert, wenn man sie loslässt, die Dichterinnen und Dichter? Immerhin ein exotisches Völkchen mit einem speziellen Beruf, der so gar nicht in unsere Zeit passt, diese oberflächliche, eilige, flache. Gibt es sie noch? Es gibt sie. Zu finden im Grunde tagtäglich auf einem Blog im Windschatten des Leipziger Literaturverlages, der regelrecht einlädt zum poetischen Dialog. Und einmal im Jahr wird eine Anthologie daraus.
Eine besondere Anthologie. Denn für gewöhnlich werden in Anthologien Gedichte gesammelt von einem emsigen Herausgeber – mal nach Thema, mal nach Epoche, mal nach Wahlverwandtschaften, Jahreszeiten oder Geschenkgelegenheiten. Gedichte sind immer ein schönes Geschenk, wenn sie gut sind.
Gute Gedichte machen Arbeit. Und die Fähigkeit, mit Sprache kreativ umzugehen. Aber sie brauchen nicht unbedingt nur das stille Kämmerlein. Es gibt dichtende Menschen, die unterhalten sich auch gern über das, was sie tun. Und wie sie es tun. Und zwar auf poetische Weise. Kreativ, lustvoll, launisch.
Wann kann man Dichtern schon einmal beim Plaudern zuhören? Oder mitlesen, wie sie es tun. Auf inskriptionen.de kann man das. Der Literaturverlag hat den Blog genau dafür eingerichtet. Und damit Futter da ist, an dem sich die Geister entzünden können, werden die Jahre unter ein Thema gestellt. 2013 war es ein Dichter, der in Leipzig fast vergessen ist. Nicht ganz, wie diese neue Anthologie der Reihe Inskriptionen zeigt, auch wenn die vier Herausgeber im Vorwort nur kurz darauf eingehen, dass sie das Motto des Bandes dem 1920 erschienenen Gedichtband “Traumschutt” von Wilhelm Klemm entnommen haben.
Dabei ist Wilhelm Klemm einer der ganz Großen des deutschen Expressionismus. Seine Gedichte stechen selbst in der 1919 von Kurth Pinthus herausgegebenen Sammlung “Menschheitsdämmerung”, dem Standardwerk zum deutschen Expressionismus hervor. 1914 war ein gutes Jahr, den 1881 in Leipzig geborenen Dichter zu entdecken, denn er verbrachte – wie so viele seiner Altersgenossen – diese Zeit an der Front. In seinem Fall als Militärarzt. Er hatte – u.a. in Leipzig – Medizin studiert, 1918 übernahm er die Kommissionsbuchhandlung G.F. Fleischer, ab 1922 war er Geschäftsführer des Alfred Kröner Verlages, ab 1927 leitete er die Dieterichsche Verlagsbuchhandlung – was auch der Grund war, dass er 1945 aus Leipzig fortging – er verlegte die Dieterichsche Verlagsbuchhandlung nach Wiesbaden.
Für die begabten Damen und Herren im Inskriptionen-Raum reichte im Grunde schon der Buchtitel, um loszulegen. Da und dort vielleicht eine Anregung aus Klemms Gedichtband. Und dann entfaltete sich der Dialog von ganz allein, ward hier ein Gedicht in den Raum geschrieben, dort ein kurzer, verdichteter Text in Prosa. Kamen erste Rückmeldungen im Kommentarfeld, Kommentare zu Kommentaren, neue Texte, die auf Anregungen aus den Kommentaren reagierten und ein aufgerissenes Thema weiter führten. Oder neu bedachten. Es ist fast alles dabei – von der kleinen, lyrischen Reflexion über das dichte, kritische Gedicht zur Zeit bis hin zu herrlich schnöden Dialogen, wie sie wirklich nur Lyriker schreiben können. Weil sie ganz dabei sein dürfen, anders als andere Autoren, die viel zu oft stören in ihren Texten.
Aber bei Lyrikern erwartet man es eigentlich, dass sie da sind – mit Haut und Haar, Herz und Schnauze, Ironie und Lebenswitz. Sind sie. Die Damen unter den hier Teilnehmenden stärker und fröhlicher als die Herren. Und entstanden ist – nicht verwunderlich in dieser Form – kein “Klemmscher Dichterhimmel”.
Es ist, als hätte man den großen Alten ganz in Ruh lassen wollen in seiner Wolke, nur ein paar Anregungen geholt. Und dann los. Und das ein ganzes Jahr lang. Mit immer neuen Bezügen, Abwegen, Ausschweifen. Zwischendurch ein paar launige Moderationen aus der Leipziger Klemmstraße, pardon, natürlich der Brockhausstraße, wo der Literaturverlag zu Hause ist in Schleußig.
Die Klemmstraße gibt es auch, in Connewitz, aber die ist nicht nach dem Dichter benannt, sondern nach dem Kunsthistoriker Gustav Friedrich Klemm, der für Leipzig deshalb so wichtig ist, weil seine Sammlung den Grundstock des Völkerkundemuseums bildete.
Aber hat dann das, was die hier versammelten 19 Autorinnen und Autoren schrieben, so im launigen Wechsel des Jahres, überhaupt noch mit Wilhelm Klemm zu tun? – Erstaunlicherweise ja, stellten die Herausgeber beim Sichten des Materials fest, das sie erstmals nicht (wie in den sechs Inskriptionen-Anthologien zuvor) in strenger chronologischer Reihenfolge darbieten, sondern in acht Kapiteln, die in sich relativ deutlich eingrenzbare Themenkomplexe versammeln. Mal geht es um das Große Ganze, mal um das Ich in der Welt, mal um diese ganzen komplizierten Sachen mit den Beziehungen, die Menschen eingehen, miteinander, untereinander, gegeneinander und – nicht zu vergessen – mit sich selbst. Ganz verflixte Verstrickungen, die gleich im Kapitel 1 versammelt sind, überschrieben mit dem Klemm-Zitat “wo der mond im gemüsegarten liegt”.
Wer durch die kurzen Anreißer angeregt wird, mal wieder expressionistische Lyrik im Allgemeinen und Klemm im Besonderen zu lesen, der sollte es tun. Man lernt was dabei. Zum Beispiel, wie Lyrik entsteht aus Brüchen und Ausbrüchen. Kaum eine Literaturepoche war so lyrisch wie just der vom ersten Weltkrieg zerfetzte Expressionismus. Alle Welt schaut heute auf die großen Romanciers, die in der Regel Jahre brauchten, um sich mit diesem früh zerrissenen Jahrhundert auseinanderzusetzen. Bei Lyrikern ging das flotter. Bei Klemm ist schon (fast) alles da, auch in der wilden Mischung, die die Ent-Täuschung mit dem Spukhaften des Erlebten verbindet. Wie in solchen Zeilen: “großartig verschraubt sich das weltbild”.
Die steht dann über dem Kapitel, in dem sich die hier Versammelten fröhlich über die Selbstbilder der Gegenwart verflachsen und zeramüsieren. Mit Lust. Die Kommentare sind unter den Texten immer nachlesbar, so dass man auch ein bisschen mitbekommt, wie sich die Einzelne oder der Einsame des nächtens zuschaltete, freute, ärgerte oder gefordert sah. Und das ist dann manchem Text auch ablesbar.
Am Ende hat man acht recht eigene Kapitel miterlebt, ist ein bisschen benommen im Kopf, weil es summt, als hätte man mit der Bande eine ganze Nacht am großen Tisch bei Wein und Kaffee und viel zu vielen Zigaretten zugebracht. Und ein ganzes Jahr ist herum. 2013 ist auf 2014 gesprungen. Hochwasser war in Sachsen (und mindestens drei Gedichte haben es sogar eingefangen). Die jüngsten Texte tasten sich durch das Frühlingwerden. Und am Ende sorgt ein Klemm-Zitat noch für ein Hallo: “der durchschnitt vergöttert das dumme”. Als hätte er auch das heute geschrieben. Und nicht vor 100 Jahren, die uns so nah sind, dass man auf diese Erkenntnis eigentlich nur noch schnippisch reagieren kann. So wie es in diesem letzten Kapitel rund um den beinah fast schon vergessenen Fall Lewitscharoff passiert. “Ein heikles Pflaster”, sagt Rapunzel. Und Frau Kleist fügt hinzu: Auch in der Kunst gibt es Leute, die sich “gegen die Komplexität der Gegenwart” versuchen abzuschotten.
Sage keiner, man würde von gedankenreichen Dichterinnen und Dichtern nichts lernen, wenn sie erst mal losgelassen.
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