Leipzigs Geschichtserzählung ist ein Flickenteppich, in dem es manchmal bunt durcheinander geht. Gut belegte Geschichten stehen neben Mythen und echten Stadtführer-Legenden, Fakten neben vagen Konstruktionen, Mutmaßungen neben Kapiteln, deren Fakten mal vor 100 Jahren zusammengetragen wurden. So eine Geschichte ist die Geschichte der Leipziger Singakademie. Nie gehört? Kann vorkommen. Auch Leipziger legendäre Institutionen gehen dann und wann mal unter.

Und die Singakademie war legendär. Schon deshalb, weil sie sich die berühmte Berliner Singakademie zum Vorbild genommen hatte, als sie 1802 zum ersten Mal gegründet wurde. Auch das gehört zu den Wirren in der bislang erzählten Geschichte: Welche Daten gelten denn eigentlich in der Frühzeit? Und wie viele Singakademien gab es eigentlich? Und war das nun wirklich, wie so oft kolportiert, der erste gemischte Laienchor Leipzig? Manchmal sind es solche Worte, die auch den Laien ärgern, weil sie schwammig sind und nichtssagend. Und Wissenschaftler stolpern drüber und fragen: Ja, stimmt das denn?

Stimmt natürlich so nicht. Es ist – wie mit jeder Geschichte – viel verwickelter.

Stephan Wünsche hat sich die ganze Singakademie-Geschichte vorgenommen und alles aus den Archiven geholt, was da zu finden ist. Es war sein Dissertationsthema. Die Dissertation wurde angenommen von der Fakultät Geschichte, Kunst und Orientwissenschaften der Uni Leipzig. Und hier kann jeder nachlesen, wie eine Dissertation aussehen kann, wenn der Autor detektivische Grundlagenarbeit leistet und sich nicht mehr zufrieden gibt mit widersprüchlichen Jahresangaben, vagen Namens- und Mitgliederlisten und irgendwelchen Informationen aus zweiter oder dritter Hand.

Das Ergebnis ist im Grunde die Wiederentdeckung eines wichtigen, fast vergessenen Kapitels der Leipziger Musikgeschichte. Denn die Singakademie wurde unter der Leitung von Johann Gottfried Schicht 1802 ja nicht gegründet, wie das heute mit diversen Leipziger Chören ist, da Leipzig auf eine Mehrzahl musikalischer Ausbildungsstätten blicken kann und auch aus den großen Musikensembles immer wieder Neugründungen die Welt erfreuen.

1802 gab es eigentlich – nichts. Na gut: die Thomaner. Die mussten überall ran, wo Chormusik gebraucht wurde – auch im Gewandhaus. Und wenn ein paar Männerstimmen gebraucht wurden, wurden Studenten verpflichtet. Alles Knaben und Männer. Deswegen waren frühere Autoren immer auf das Wörtchen “gemischt” so versessen. Endlich was mit Frauen.

Frauenstimmen waren auch vorher schon zu hören. Dafür hatte einer der wichtigsten Thomaskantoren gesorgt: Johann Adam Hiller. Der nicht nur ein paar berühmten Sängerinnen die Laufbahn eröffnete, sondern auch als Erster bemerkte, dass der Musikstadt eine ordentliche Stimmausbildung außerhalb des Thomanerchores fehlte. Das machte Choraufführungen im Gewandhaus (dem er ja auch eine Zeit lang diente) ziemlich schwierig. Und so gibt es auch schon vor der Singakademie eine Singschule in Leipzig – die Hillersche. Auch darauf geht Stephan Wünsche ein. Genauso wie auf die nicht leichte Anlaufzeit ab 1802. Denn 1804 löste sich die erste Singakademie auf. Auch das ein Datum, das nun erstmals belegt ist. Genauso wie die Gründung der zweiten, der Riemschen Singakademie.

Wobei auch da die Quellen nicht wirklich verraten, ob das nun in Konkurrenz geschah oder ob man einfach noch keine stabile Form gefunden hatte. Denn auch die zweite Akademie löste sich auf, wurde aber 1812 genauso wieder gegründet wie die erste.

Das ging so hin und her bis 1818, bis beide vereinigt wurden und dann als Leipziger Singakademie nicht nur lange, lange Bestand hatten. In der zweiten Hälfte stieg die Singakademie auch zum Gewandhauschor auf, in eine Zeit, als endgültig klar war, dass man mit den Thomanern die wirklich großen und vielstimmigen Chrorkonzerte im Gewandhaus nicht mehr bestreiten konnte. Das war die Zeit, als Carl Reinecke darum kämpfte, endlich einen eigenen Gewandhauschor zu bekommen – den er dann auch bekam. Die Singakademie war von dieser Einbindung ins große Konzertprogramm schlicht überfordert.

Das lag auch an ihrer Mitgliederstruktur, die Stephan Wünsche in seiner Dissertation sehr intensiv untersucht. Denn die Singakademie war – obwohl sie professionelle Konzerte gab (und in der Frühzeit zumeist für einen guten Zweck) – ein professioneller Chor, wie man ihn heute verstehen würde. Sie setzte sich – und das ist wohl eine der schönsten Erkenntnisse, die Wünsche aus den Akten fischte (und es existieren zumindest einige recht erhellende Mitgliederverzeichnisse aus der Frühzeit), – vor allem aus den Mitgliedern des höheren Leipziger Bürgertums zusammen. Und noch viel schöner: vor allem aus den jüngeren. Die Singakademie entpuppt sich beim genaueren Hinsehen als ein kultureller Treffpunkt der besseren Gesellschaft, in dem es nachweislich auch zu vielfältigen familiären Verbindungen kam.

Eine Stelle, an der Wünsche zwar vorsichtig ist. Denn die wichtigen Leipziger Familien trafen sich auch in anderen wichtigen Vereinigungen – von der Gesellschaft Harmonie bis hin zu den Freimaurerorden. Die familiären Verbindungen können durchaus auch bei anderen Gelegenheiten zustande gekommen zu sein. Aber der jugendliche Altersdurchschnitt des Chores in seiner Frühzeit deutet zumindest darauf hin, dass sich hier für die männlichen und weiblichen Sprösslinge der Highsociety eine gute Gelegenheit für eine gesellschaftliche Begegnung ergab. Und gleichzeitig natürlich auch zu einer kulturellen Betätigung auf hohem Niveau. Denn dass dieser Chor der Dilettanten (und das war um 1830 kein Schimpfwort) Leistung auf höchstem Niveau bot, bescheinigen ihm auch die Erwähnungen in den nicht gerade zahmen Leipziger Musikzeitschriften.

Wünsche wertet auch noch Mitgliederlisten für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts aus, wo sich schon einiges geändert hatte – der Altersdurchschnitt war gestiegen, der Frauenanteil auch. Die Singakademie war wohl eher kein Treffpunkt der wohlhabenden Jugend mehr, die sich in der Begeisterung fürs Singen füreinander erwärmte. Tatsächlich konkurrierte die Singakademie in der zweiten Jahrhunderthälfte mit einer wachsenden Zahl immer neuer Chöre, die jetzt um Mitglieder buhlten – Männerchöre, Volkschöre, selbst die Arbeiter begannen hochkarätige Chöre zu gründen.

Bestellen Sie dieses Buch versandkostenfrei im Online-Shop – gern auch als Geschenk verpackt.

Die Leipziger Singakademie
Stephan Wünsche, Leipziger Univerlag 2014, 29,00 Euro

Seinen Charakter als Treffpunkt der Töchter und Söhne aus gutem Hause büßte die Singakademie zunehmend ein und schaffte es auch nicht, sich mit eigenem Profil eine Sonderstellung unter den immer stärker konkurrierenden Chorangeboten der Stadt zu verschaffen. Wer wirklich Sangestalent hatte, hatte auch längst die Wahl unter professionellen Chorangeboten. Der “Rest der Geschichte”, die Zeit von 1900 bis 1967 – liest sich dann wie ein langer, zuweilen verzweifelter Kampf um das Bewahren des Chores – mal gegen finanzielle Widrigkeiten (die den Chor in den 1920er Jahren massiv beschäftigten), mal gegen die Zumutungen der diversen Diktaturen (wobei es gerade in der NS-Zeit die konkurrierende Volkssingakademie war, die das vorläufige Überleben sicherte). Aber unter den neuen administrativen Gegebenheiten der DDR war dann nichts mehr zu machen. 1967 war Schluss.

Aber mit dieser ganzen Epoche schildert Wünsche natürlich auch ein bislang zuweilen recht oberflächlich behandeltes Kapitel der Leipziger Musikgeschichte. Und er schafft es – was selten ist – auch die gesellschaftlichen Verflechtungen insbesondere in der Frühzeit des Chores sichtbar zu machen. Man ahnt, warum die Stadt Leipzig gerade in dieser Zeit zur Musikstadt wurde.

Seiner Arbeit beigegeben hat er auch einen opulenten Anhang mit den Kurzbiographien aller Chormitglieder, die er in den beiden von ihm besonders untersuchten Phasen gefunden hat. Mitsamt den verwandtschaftlichen Beziehungen untereinander. Ein kleiner, so bislang noch nirgendwo gesehener Blick im Uhrwerk der Leipziger Stadtgesellschaft im 19. Jahrhundert. Und mit Lust am Erkunden geschrieben. Muss man dazu sagen. Dissertationen können sehr unterhaltsam sein.

www.univerlag-leipzig.de

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar