Mongolische Dichtkunst ist auf dem deutschen Buchmarkt kaum prรคsent. Es geht dem 3-Millionen-Einwohnerland da nicht besser als so vielen anderen Nationen, deren Sprache es schwer hat, per รbersetzung in deutsche Buchhandlungen zu gelangen. Dabei ist es auch heute noch das stolze Volk der Nachfahren Tschingis Chaans: ein Volk der Reiter, Hirten, Nomaden. Zumindest in der Lyrik. Denn wie man vom Kirgisen Tschingis Aitmatow weiร: Der Tag zieht den Jahrhundertweg ...
Tradition und Moderne prallen auch in den Steppen der Mongolei aufeinander. In der einen, immer mehr ausufernden Hauptstadt Ulaanbaatar sowieso, wo heute 1,3 Millionen Mongolen leben. Auch wenn die Mongolei mit ihren riesigen Steppen und Wรผstenlandschaften eines der grรถรten Lรคnder der Erde ist, leben dort weniger Menschen als in Sachsen. Und der Widerspruch wird noch deutlicher, wenn man sich vorstellt, dass 1,5 Millionen Sachsen allein in der Landeshauptstadt Dresden wohnen wรผrden. Dabei ging auch das Land am Altai im 20. Jahrhundert den steinigen Weg durch die Knochenmรผhle der Modernisierung. Vor 100 Jahren waren die Mongolen tatsรคchlich noch ein fast klassisches Volk der Reiternomaden, einzig bedrรคngt von den beiden Groรmรคchten Russland und China, die hier um Einfluss rangen.
Vor 100 Jahren ging der Jahrhunderte lange Einfluss Chinas zu Ende, die Mongolen begannen, eine nationale Eigenstรคndigkeit zu erkรคmpfen, die sie 1924 auch erlangten. Damals wurde die Mongolei zum zweiten sozialistischen Staat der Erde. Und bis 1989 entwickelt sich das Land im gewaltigen Schlagschatten der Sowjetunion. Auch die Mongolen erlebten ihre friedliche Revolution, die Etablierung eines demokratischen Staates und die konfliktreiche Reise in die Welt des heutigen Kapitalismus, die sich in den Lรคndern der Erde รผberall so verblรผffend รคhnlich ist โ mit einer kleinen Schicht von Reichen, die sich die Ressourcen des Landes aneignen und immer reicher werden โ und mit einer wachsenden Schicht von Armen, die versuchen, von den รผbrig bleibenden Brosamen zu รผberleben. Auch in der Mongolei lebt ein Drittel der Menschen heute unter der Armutsschwelle.
Diesen ganzen Spannungsbogen hat Klaus Oehmichen eingesammelt, als er 2006 begann, zielgerichtet Gedichte der letzten 100 Jahre zu รผbersetzen. Tatsรคchlich ist die Spanne weit grรถรer, denn er ist mit einigen Beispielen mongolischer Dichtkunst bis ins 13. Jahrhundert zurรผckgegangen. So zeigt er die Wurzeln der jรผngeren Dichter, die die โWeisheitssprรผche Tschingis Chaansโ ebenso umfassen wie diverse Chroniken des 16. und 17. Jahrhunderts und Volkslieder des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Einflรผsse der lamaistischen Klรถster werden sichtbar, genauso wie die jahrhundertelange Trennung zwischen der in den Klรถstern gepflegten schriftlichen รberlieferung und den Gesรคngen, Liedern, Balladen und Legenden, die in den Jurten von Sรคngern und Erzรคhlern mรผndlich weitergetragen wurden.
Tatsรคchlich floss das erst mit dem frรผhen 20. Jahrhundert erstmals zusammen. Erst seitdem entwickelte sich eine breite mongolische Literatur, die nun nicht mehr an die Schreibgelehrten der Klรถster gebunden war. Und was sich da entwickelte, ist bis heute einzigartig. Dazu braucht es nicht einmal die von Barbara Groรe fรผr den Auswahlband bereitgestellten Aquarelle weiter grรผner Landschaften. Denn diese Landschaften sind in der mongolischen Dichtung prรคsent. Bis heute.
Noch, muss man sagen. Denn was die 65 Jahre des Sozialismus nicht geschafft haben โ den Bruch mit der alten Kultur des Reitervolkes -, das vollbringen nun die Hammerschlรคge der kapitalistischen Marktwirtschaft. Immer mehr junge Mongolen suchen ihr Glรผck in der groรen Stadt, Familien, denen Kรคlte und Dรผrre die Herden dezimiert haben, siedeln sich im Umfeld der Hauptstadt Ulaan Baatar an. Und damit beginnen die alten Traditionen zu zerbrechen, sich aufzulรถsen. Und auch die Dichter des Landes erleben es als Schock. Gerade weil sie noch bis vor wenigen Jahren ohne wirklich spรผrbare Distanz von der Weite der mongolischen Himmel singen konnten, von der Liebe zur Familie, den Steinen der Heimat, den Pferden, auf deren Rรผcken sie ein ganzes Leben verbrachten.
Es tauchen immer wieder die selben Motive auf, mal in der allumfassenden Perspektive des Staunens darรผber, wie schรถn dieses Land ist, mal aus der Nahdistanz, wenn das Schlummern der Liebsten beschrieben wird, die Freude der Kinder, die Handgriffe des Alltags. Und das Verblรผffende beim Lesen: Es wird nicht langweilig. Es ist, als liefe vor dem inneren Auge die ganze Zeit ein groรer Breitwandfilm ab, auf dem sich das goldene Gras der Steppen wiegt, der blaue Altai den Horizont markiert, Staubfahnen durch die dreizehn Regionen der Gobi wehen โ und immer wieder der Zoom auf die Jurten, die umworbenen Frauen, die stolzen Reiter, auf stille Seen, sprudelnde Flรผsse und kreisende Vรถgel an einem unendlichen Himmel. Ein schรถnes Leben und ein rauhes Leben. Mongolische Dichter werden nicht alt. Der Wechsel der Generationen ist dichter als bei uns.
Der Atem, mit dem die Dichter โ und im spรคten 20. Jahrhundert auch die Dichterinnen โ das Leben unter dem endlosen Himmel beschreiben, erinnert โ wohl nicht ganz zufรคllig โ an die โGrashalmeโ von Walt Whitman. Auch sie โsingen ihr Landโ, tun es oft im Tonfall der alten Lieder und Hymnen, es fรคllt schon auf, wenn sie versuchen, die europรคische Dichtung der Moderne aufzugreifen. Es passt einfach nicht. In guter Dichtung spiegelt sich immer das Lebenstempo und das Lebensgefรผhl der Vรถlker. Manches erinnert ebenso natรผrlich auch an Lieder, wie sie einst Herder in den โStimmen der Vรถlker in Liedernโ versammelte. Hier hat es sich bewahrt, weil auch die Kultur sich lange bewahren konnte. Auch in der Zeit des Sozialismus, auch wenn gerade die Generation der Parteidichter in diesem Band nicht vorkommt. Die ist vergangen. Die liest auch in der Mongolei vermutlich niemand mehr.

Doch das empfindet man nicht als Verlust. Denn fast nahtlos schlieรt sich an die Dichtungen der ersten schreibkundigen Generation, die sich ab 1921 zu Wort meldete, die โGoldene Generationโ an, die ab den 1960er Jahren eine eigene Sprache fand, wie Klaus Oehmichen im Nachwort schreibt, in dem er noch einmal einen kleinen Abriss der jรผngeren mongolischen (Literatur-)Geschichte gibt. So kann man die 108 Gedichte, die er gesammelt hat, einordnen. Und ebenso wichtig ist der Anhang mit den biographischen Notizen zu den ausgewรคhlten Dichterinnen und Dichtern, die auch zeigen, wie eng Dichtung mit persรถnlichem Erleben zusammen hรคngt. Und wie Dichtung selbst gesellschaftliche Entwicklungen vorantreibt. Denn der mutige Ton der โGoldenen Generationโ hat โ ganz รคhnlich wie in der โbefreundetenโ Sowjetunion die โTauwetterโ-Literatur โ die Umbrรผche der 1980er Jahre vorweggenommen und beflรผgelt.
รbrigens etwas, dessen man sich im ostdeutschen Revolutionsfrรผhling bis heute nicht wirklich bewusst werden will. Auch die DDR hatte ihre โTauwetterโ-Literatur.
Eine Gesellschaft muss sich auch immer an den Maรstรคben der Dichter messen lassen. Und die sind hoch, gerade bei den besten mongolischen Dichtern. Was ebenfalls mit einem Aspekt zu tun hat, den die Mongolei mit der damaligen Sowjetunion und der DDR gemeinsam hatte: der hohen gesellschaftlichen Wertschรคtzung von Dichtung, was den Dichtern auch vergleichsweise hohe Auflagenzahlen fรผr ihre Lyrikbรคnde verschaffte. So etwas schafft Wechselwirkungen. Denn Achtung hat auch mit Aufmerksamkeit zu tun. Denn kluge Dichtung schรคrft auch den Blick fรผrs eigene Leben und Lebendigsein. Umso schmerzhafter werden die Widersprรผche deutlich, wenn ein richtiges Leben im falschen nicht mehr mรถglich ist. Das gilt nicht nur fรผr die gescheiterten Marxisten. Das gilt auch fรผr die oft genug emotionslosen Ingenieure der Marktwirtschaft, die nur die Rendite und die Effizienz begreifen, aber nicht, was eine marktkonforme Gesellschaft mit den Menschen, ihren familiรคren und traditionellen Bindungen anrichtet.
Deswegen wirken gerade die jรผngeren Gedichte in diesem Band wie ein Bruch, als spรผrten die Dichter am eigenen Leib, wie das alte, staunende Verhรคltnis zur unendlich schรถnen Mongolei gestรถrt, zerrissen, lรคdiert ist. Sie spรผren es wie ein Leiden im eigenen Kopf. Wie Baataryn Galsansรผch: โDas Organ Seele erkrankt wie die Leber (โฆ) Das Organ Seele wird stillstehen wie das Herz.โ Was auch den Leser herausschleudert aus dem groรen, mitreiรenden Gesang, wie ihn Begdsijn Jawuuchulan 1961 noch schreiben konnte: โรber den weiten blauen Himmel zu gebieten bin ich geboren โฆโ
Und auch das wirkt auf den Leser im heutigen Mitteleuropa verwirrend vertraut โ als Widerspruch mitten im eigenen Leben: zwischen Sehnsucht und erlebtem Alltag, Traum von Freiheit und gelebter Verwirrung. Natรผrlich hat das mit Sinnstiftung zu tun. Und mit dem wachsenden Misstrauen, wenn Menschen sich nicht mehr geborgen fรผhlen in ihrer Welt. Oder um Bajarchuugijn Itschinchorloo zu zitieren, der 1995 den jungen Adler besingt: โMehr Angst vor dem Tod haben sie vor deinem sicheren Blick / Bitte vertrau nicht den Menschen hier, o Adler (โฆ) Die Leute mรถgen solch stolzes Verhalten nicht โฆโ
So wird die Sammlung auch wie ein schwermรผtiger Blick zurรผck in ein Land, das ebenso am Verschwinden ist, wie jedes andere dieser alten, traditionellen Lรคnder, die in den Mahlstrom der sturen Marktwirtschaft geworfen wurden, die alles รผberall den selben Regeln und Gesetzen unterwirft. Und sich dann nicht einmal wundern kann, dass die Menschen in der neuen Verheiรung nicht glรผcklich werden.
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