Es gab mal eine Zeit, da wäre so ein Buch als griffiges Taschenbuch in der SF-Reihe des Heyne-Verlages erschienen. Das war noch zu Zeiten, als Science Fiction nicht reineweg als kosmisches Ballerspiel und Heldenepos begriffen wurde. Als auch noch in Dystopien gekleidete kluge Gesellschaftskritiken hier ihren Platz fanden. Dies hier ist eine. Mitten aus einer Zeit, in der Dystopien die täglichen Abendnachrichten füllen.
Denn zumindest all jene, die noch nicht völlig weggerauscht sind im Irrsinn der Fernsehformate haben ja längst das Gefühl, dass einiges gewaltig schief läuft auf Erden. Dass wieder aufgerüstet wird für Kriege, deren Sinn niemand mehr versteht. Dass machtbesessene Männer in Ost wie West beginnen, sich ihre Staaten zurechtzumodeln wie die durchgeknallten Fürsten in Macchiavellis “Il Principe”. Als stünde alles, was sich die Demokratien in West und Ost mühsam aufgebaut haben an zukunftsfähigen Strukturen, wieder zur Disposition, wenn nur ein durchgedrehter Präsident meint, er müsse wieder Heilige Kriege führen und das Böse ausmerzen.
Irgendwie so muss es auch gewesen sein, bevor sich die Welt, wie sie Jennifer Lehr schildert, so entwickelte. Irgendwo in einem amerikanischen Labor wurde ein Virus entwickelt, der Soldaten in fast unbesiegbare Kampfmaschinen verwandelt. Und wie das so ist, wenn ein Waffensystem neue Schwellen überschreitet – ein Fehler genügt, und die ganze Sache gerät außer Kontrolle. Die so verwandelten Soldaten – die Stranger – geraten außer Kontrolle und beginnen die Erde zu tyrannisieren.
Ein fast vertrautes Szenario.Ebenso vertraut die Verwandlungen der noch freien Welt in eine Art Präsidialdiktatur. Wer nicht zu den noch Gutverdienenden gehört, der verdingt sich in der SDU, einer Art paramilitärischer Polizei, die nicht nur gegen die Stranger eingesetzt wird, sondern auch zu Sonderaktionen im Inneren. Die Grenzen werden ja fließend, wenn an die Stelle parlamentarischer Kontrolle die selbstherrlichen Präsidenten treten.
Elizabeth Bontoja ist eine solche Kämpferin des SDU, so ein bisschen Lara Croft, aber nicht ganz so perfekt. Nun abgeordert, einen besonderen Stranger quer durch Eurasien zu begleiten, damit er im fernen Hongkong in einem Labor untersucht werden kann. Und wie das so ist mit einem einfachen Päckchen-Auftrag: Die Sache geht schief. Denn wenn eine Gesellschaft erst einmal kaputt ist, ist niemand mehr sicher vor Verrat. Die eigenen Leute können zum Feind werden, weil hinter den Kulissen ein Mächtiger die Strippen zieht.Die Sache entpuppt sich also recht schnell zu einem Highway to Hell, als Gejagte landen die zwei mitten im Urwald und später in den Straßen Delhis. Natürlich überleben sie. Immerhin sind sie beide für solche Höllentrips ausgebildet. Und wie das so ist – natürlich kommen sich beide nah und zwischen SDU-Agentin und Stranger, der Schönen und dem Biest, entwickelt sich, was sich entwickeln muss.
Aber: Jennifer Lehr erzählt es, wie es in so einem auf Tempo geeichten Roman erzählt werden muss: flott, unemotional, ohne Luft ranzulassen. Etwas, was man in heutigen 600-Seiten-Schwarten nur zu sehr vermisst, deren Autoren irgendwie alle bei Tolkien abgekupfert zu haben scheinen und sich seitenlang in Landschafts-, Dynastien- und Seelenbeschreibungen verlieren. Das Zeug scheint irgendwelche Leser zu faszinieren. Uns nicht. Geben wir zu. Denn wenn schon so erzählt wird, dann mindestens mit der Dynamik eines Robert A. Heinlein, der so am Rande vielleicht ein bisschen Vorbild war für diesen Stranger-Roman und die militärischen Protagonisten.
Nur dass bei Heinlein in der Regel die Trauer fehlt über kaputte Gesellschaften und irre gewordene Präsidenten. Bei Jennifer Lehr schwingt das noch mit. Vielleicht auch, weil man dabei die Gegenwart des Jahres 2014 mitliest, diese rotzfreche Arroganz von Staatsministern, Geheimdienstchefs und abgehalfterten Ex-oder-Noch-Präsidenten, die nicht einmal einsehen, wie sehr sie die so mühsam erkämpften Demokratien schon zerstört haben. So sehr, dass man den Weg, den Jennifer Lehrs Eurasien gegangen ist, nicht einmal mehr als wirklich fremde Dystopie empfindet, sondern wie etwas, was schon morgen einfach kommen kann, weil 200 gekaufte Abgeordnete wieder brav ihre Hand heben. Man steht ja auf der richtigen Seite und hat Werte zu verteidigen. Auch wenn man die Werte längst wohlfeil verramscht hat.
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Das Ergebnis ist dann möglicherweise so eine Welt, wie sie Jennifer Lehr als Hintergrund gewählt hat für ihre Flucht-Geschichte quer über den Kontinent, aufgeladen mit Spannung, denn wenn die Bösewichter auch noch den Zugriff auf die eigenen Sicherheitssysteme haben, wird jeder Schritt verräterisch, gibt es auch für Elizabeth und ihre Mission keinen Schutz mehr. Es ist ein bisschen wie bei James Bond (und da und dort zitiert Jennifer Lehr auch gern die zu Filmruhm gelangten Helden des Genres): Die Gegenseite hat immer einen Vorsprung und kann über Mannschaften und Material verfügen, das den Helden der Geschichte nicht zur Verfügung steht. Ohne ein paar Superman-Eigenschaften geht es nicht. Es ist ein Rennen gegen die Zeit (aus vielerlei, nicht unbedingt leckeren Gründen) und es gibt immer wieder die bekannten filmreifen Showdowns, die die Mission öfter an den Rand des Scheiterns bringen.
Mittendrin dann nicht nur eine, sondern zwei gefährliche Liebschaften, ein paar Blenden in diverse Ich-Perspektiven, die dann auch zeigen, dass es der Autorin nicht nur um Action geht, sondern um so alte wie ewig neue Themen wie Freundschaft, Vertrauen und diese ganzen Emotionen. Mit denen geben sich heute einige Zeitgenossen in all ihrer Abgebrühtheit nicht mehr ab, Jennifers kleine Mannschaft, die sich unterwegs noch ein bisschen vergrößert und ein bisschen ehrlicher ist als zuvor, aber schon. Der Held wird zum Menschen. Es ist die alte Geschichte. Aber sie macht einen Großteil der lesbaren Science Fiction aus. Oder um mal Jennifer Lehr selbst zu zitieren: “Die Hoffnung stirbt zuletzt.”
Auch deshalb könnte es sein, dass die gesellschaftskritische Science Fiction wieder im Kommen ist. Erst einmal in den kleinen, engagierten Verlagen, die sich noch trauen, nicht nur den Mainstream zu füttern.
Jennifer Lehr “Stranger 2905”, Einbuch Buch- und Literaturverlag Leipzig, Leipzig 2014, 12,90 Euro
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