Im dritten Kapitel der Vortragsreihe "Religion - Facetten eines umstrittenen Begriffs" beschäftigen sich Hans Koas, Constantin Klein und Alexander Grau mit den Außensichten auf Religion und betrachten so tatsächlich auch des Pudels Kern. Dass Faust und die Gretchenfrage hier auftauchen, ist zwangsläufig, obwohl Grau den Bogen der Religionskritik sogar bis in die Antike schlägt.

Aber die Diskussionen, die uns heute beschäftigen, wurzeln alle in der europäischen Aufklärung – d’Holbach und Diderot werden genannt, Fausts sehr moderne Antwort an Gretchen ausgiebig gewürdigt. Grau springt dann zwar gleich zu Nietzsche und lässt eigentlich den wichtigsten deutschen Philosophen weg, bei dem alle Fragen schon diskutiert sind: Immanuel Kant, der als erster begriffen hat, dass Glauben und Religion zwei paar Schuhe sind (Kirche und Religion übrigens auch) und sich Religion nur begreifen lässt als Aspekt der menschlichen Vernunft.

Kant benennt es – und Hans Joas greift es in seinem Beitrag “Europas Zukunft ist multireligiös” wieder auf: Der Mensch hat ein großes Bedürfnis, sein Leben, seine Handlungen, seine Vorstellung vom richtigen Handeln (Moral) in ein größeres Ganzes einzufügen, ihm einen (höheren) Sinn zu geben. Gerade weil er sich als einzelnes, verletzliches, endliches Wesen in einer Welt wiederfindet, die in ihrer Unendlichkeit und Unfassbarkeit einfach da ist. Da fragt sich auch der Steppenbewohner am Lagerfeuer: Warum das alles? Wozu? Welchen Zweck hat das?

Wahrscheinlich ist es gar nicht falsch anzunehmen, dass beide Denkweisen in der Menschheitsgeschichte sogar parallel entstanden: die wissenschaftliche und die religiöse. Ohne die erste wäre der Mensch nicht das geworden, was er heute ist. Denn dahinter steckt die Neugier, wie alle Dinge beschaffen sind, wie sie funktionieren, wie man sie sich dienstbar machen kann. Selbst in der Bibel nachzulesen: “Macht euch die Welt untertan.” Nur so kam es zu Werkzeugen, Ackerbau, Viehzucht, Städtebau und der ganzen modernen Zivilisation.
Und parallel war das erwachende Denken des Menschen mit einer unfassbaren Welt konfrontiert und der Frage: Macht das einen Sinn? Und wenn ja: Welchen? – Die Fragen bohren seit 10.000 Jahren. Vielleicht noch viel länger. Und das Angebot für eine Erklärung war immer: Es gibt eine höhere Macht, die da alles am Laufen hält und geschaffen hat. Denn das stimmt natürlich: Für Viele ist das Wissen darum, dass die Entstehung von Leben und die Existenz des Menschen völlig zweckfrei sein könnte, geradezu erschreckend und deprimierend. Aber das hat nichts mit Wissenschaft zu tun. Es ist nur die Frage: Welche Haltung nehmen wir dazu ein? Die transzendente, die die Welt in ein übernatürliches Prinzip einordnet und den Gläubigen das Gefühl gibt, auf diese Weise doch geborgen zu sein in einem größeren Sinn?

Eine Haltung, die übrigens nicht nur bekennende Gläubige einnehmen, wie Constantin Klein mit Verweis auf den Bertelsmann-Religionsmonitor von 2008 und 2012 zeigt, der eben nicht einfach abfragte, welcher Religion die Befragten anhängen, sondern welche Dimension von Religiosität sie in ihrem Leben erfahren haben. Da wird es dann nämlich etwas komplexer, geht es nicht um die simple (Gretchen-)Frage, wie’s einer hat mit der Religion, ob er auch in die Kirche geht und betet – sondern ob er auch mal dieses Gefühl hat, eins zu sein mit der Welt. Wobei Klein zu recht anmerkt, dass die Befragung nicht ganz belastbar ist, weil die Befragten vorher darauf hingewiesen wurden, dass es um Religion geht.

Aber die “Dimensionen von Religiosität” verweisen zumindest auf den eigentlichen Knackpunkt: Wie sehr Menschen – auch ohne konfessionelle Bindung – ein Bedürfnis haben, sich eins zu fühlen mit ihrem Leben, ihrer Gesellschaft, der Welt. Und dieses Gefühl wünscht sich eine Mehrheit der Menschen. Worauf auch Alexander Grau zu sprechen kommt, der seinen Zuhörern insbesondere den alten Lukrez ans Herz legt, der sich schon im alten Rom mutig als Kritiker der religiösen Praktiken betätigte.

Grau schreibt zum Beispiel: “Gerade weil wir zufällige Produkte natürlicher Abläufe sind, endlich und verletzlich, ist dieses eine Leben, das wir haben, so unsagbar wertvoll, und wir sollten es in Glück und Zufriedenheit verbringen.” So kann – und sollte – man es wohl sehen, wenn man die Welt mit wissenschaftlichem Blick betrachtet. Dann beginnt nämlich das Staunen darüber, dass wir dieses gewaltige Stück Kosmos sehen und begreifen dürfen. Was auch die schlichte Erkenntnis einschließt, dass es niemanden gibt, der unseren Arsch rettet, wenn wir diese kleine, gefährdete Arche, unsere Erde, kaputt machen und unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören.

Und Grau geht recht klar auch darauf ein, wie sich insbesondere die europäischen Religionen geändert haben und ändern mussten, seit (spätestens mit dem Aufkommen des Protestantismus) die Religionskritik immer deutlicher und fundierter wurde. Religionskritik war elementarer Bestandteil der Aufklärung. Und Grau stellt natürlich die heutige Gretchenfrage: “Aber trifft das den spirituellen Kern von Religionen? Entwertet es sie? Sind sie dadurch weniger wertvoll?”

Seine Antwort: Nein. Und in einem trockenen Satz erklärt er, dass sein Vorredner Tetens praktisch Quatsch erzählt hat: “Religionen konkurrieren nicht mit den Naturwissenschaften um die Deutungshoheit, sie bestreiten nicht deren Weltbeschreibung, sondern fügen diesen eine Sinndimension hinzu, die sich den Kategorien wissenschaftlichen Denkens naturgemäß entzieht.”

Was natürlich auch einschließt, dass Menschen durchaus beides können: wissenschaftlich denken und gleichzeitig religiöse Gefühle haben. Was übrigens auch einer Veränderung unterworfen ist, wie Klein feststellt: Immer mehr Menschen bezeichnen diesen Teil ihrer Emotionalität nicht mehr als religiös, sondern als spirituell.

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Religion
Alexander Grau; Gerson Raabe, Evangelische Verlagsanstalt 2014, 9,90 Euro

Kant sprach an dieser Stelle von der “merkwürdigen Antinomie der menschlichen Vernunft”, die beides kann – und augenscheinlich oft auch beides braucht: die wissenschaftliche Erkenntnis und die spirituelle Verankerung in der Welt. Aber wie gesagt: Kant wird in diesem Büchlein nicht behandelt. Was ein bisschen schade ist. Denn er hat wie kein anderer beschrieben, wie sich Religion verändern wird, wenn der (von Kirche und Landesherr verordnete) Kirchenglauben durch freie Glaubenswahl ersetzt wird.

Und die Entwicklung bleibt ja nicht stehen, auch wenn sich heute ein paar Zeitgenossen so verhalten, als ginge es jetzt wieder zurück in von Religion dominierte Zeiten. Das ist mitnichten der Fall, wie dann auch die jüngste Erhebung der Bertelsmann-Stiftung zum Thema, der “Religionsmonitor 2013”, ergab, in dessen Auswertung es heißt: “Wir gehen für Deutschland von einem weiteren Abbruch der Religiosität über die Generationen hinweg aus. Eine Renaissance der Religion im traditionellen Sinne erscheint zurzeit wenig wahrscheinlich.”

Zum Teil 1 der Besprechung auf L-IZ.de
Neun Vorträge zur Gretchenfrage des 21. Jahrhunderts: Religion – Facetten eines umstrittenen Begriffs – Teil 1 der Besprechung

Kurzsstudie zm Bertelsmann “Religionsmonitor 2013”:
www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_Religionsmonitor_2013.pdf

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