Es schwirren ja allerlei Behauptungen durch die Welt. Solche vom Kaliber "Die Religion ist wieder auf dem Vormarsch" oder " Die Säkularisierung schreitet voran", wahlweise auch "Die Aufklärung ist gescheitert". Allerlei Mumpitz, aus voller Brust behauptet von Leuten, die lieber nicht nachprüfen, was dran ist. Nur laut muss es sein. Zeit, mal öffentlich drüber nachzudenken, fand man 2013 an der Erlöserkirche in München-Schwabing.
Dort sieht man das mit den Grenzen der Konfessionen sowieso nicht so eng wie anderswo. Und man ist sichtlich bereit, auch die heutige Sicht auf Religion einmal zu diskutieren. Auch mit Leuten von außerhalb – Soziologen zum Beispiel und Philosophen. Diese Buch ist das Ergebnis. Es sammelt die neun Vorträge, die in drei Themengruppen gegliedert wurden. Man wollte es wirklich wissen und lud deshalb drei Wissenschaftler ein, die sich erst einmal mit dem Religionsbegriff an sich beschäftigten, wie er in heutigen Weltreligionen zu verstehen ist – und wer glaubt, er könne Religionen einfach allesamt gleich behandeln und in einen Sack stecken, der wird schon im ersten Text eines Besseren belehrt, in dem der Historiker Michael Wolfssohn sich mit den vielen verschiedenen Entwicklungsphasen und Spielarten des Judentums beschäftigt. Der Mutter- oder Schwesterreligion des Christentums – oder wie immer man das bezeichnen will. Und schon hier wird sichtbar, dass der Begriff Religion so einige Probleme bereitet. Er passt nicht immer. Die Grenzen sind fließend – in diesem Fall auch zur Identitätsfindung eines Volkes und zu einer ganzen Kultur.
Arnulf von Scheliha setzt die ganze Geschichte dann mit einem Vergleich von Judentum, Christentum und Islam fort. Und mit dem Islam stellt sich endgültig die Frage: Hat man es hier nicht eher mit einer eigenständigen Kultur zu tun? Gar mit mehreren Kulturen, die – genauso wie im Christentum – seit Jahrhunderten um die (richtige) Deutungshoheit ringen? Und es klingt etwas an, was später im Buch noch stärker thematisiert wird: Ist die These, die westliche Moderne mit dem Christentum in strenger Einheit zu denken, nicht völlig falsch? Geht Moderne nicht auch ohne Christentum?
Ein Beispiel dafür ist auch Japan, für das Reinhard Scheid anhand der Sieben Glücksgötter einen völlig anderen als den westlichen monotheistischen Versuch einer Religionshaltung beschreibt – immerhin harmonisieren die Sieben Glücksgötter sehr gut mit dem modernen, auf Erfolg fokussierten Japan. Und sie vereinen gleich Götter aus drei Religionswelten (Buddhismus, Taoismus und Shintoismus) in sich, ohne dass es die Japaner stört.
Was dann den zweiten Reigen der Vorträge einleitet: die Frage, ob Religion nicht doch mehr ist als nur ein in Kirchen und Tempeln ausgeübter Ritus. Der Theologe Jan Rohls versucht es ganz mutig und leitet die Kunst der Moderne aus einer neuen, künstlerischen Auseinandersetzung mit Religion her – was für die Künstlergruppe Der Blaue Reiter in München natürlich stimmt. Aber das ist manchmal das Problem einer schönen These: Sie verallgemeinert gern das Spezielle aufs Allgemeine und blendet aus, dass vor 100 Jahren ganz ähnliche gesamtgesellschaftliche Debatten um Religion, Spiritualität und das Gefühl des Verfalls aller Werte geführt wurden. Das machte etliche Künstler zu Esoterikern – aber nicht alle. Und die Moderne in ihren Wurzeln gar zur Kunstreligion zu erklären, das ist schon wagemutig.
Hingegen nicht neu, aber gern vergessen ist immer wieder die Tatsache, wie sehr der Nationalsozialismus eine politische Religion war, mit unübersehbar religiösen Riten und Glaubenssätzen, bis hin (Wagner lässt grüßen) seinen Erlöserphantasien und dem Heilsversprechen, er würde die Übel der Welt lösen, wenn er nur alles, was nicht zum Heiligen Volke gehöre, ausmerze. Christian Schwaabe arbeitet das in seinem Vortrag heraus – und vergisst auch nicht zu betonen, welche Macht und Faszination so eine Staatsreligion entwickelt und wie sehr der Nationalsozialismus resp. Faschismus ein Phänomen der modernen Gesellschaft ist, weil er Bedürfnisse nach einer Heilserwartung befriedigt, die eine rein rationale Weltsicht nicht bietet.
Was Schwaabe nicht erwähnt, ist, dass die Nationalsozialisten ihre okkultistische Weltsicht gleichzeitig als rationale Moderne verkauften. Das hat ein wenig dann auch mit dem zu tun, was der Philosoph Holm Tetens versucht als “Wissenschaft als Religion” zu postulieren. Aber das ist nicht nur der schwächste der hier versammelten Vorträge – er ist auch Unfug und hat mit Dialektik, wie Tetens behauptet, wirklich nichts zu tun. Munter schmeißt er Begriffe wie Wissenschaft und Technik durcheinander und schreibt der Wissenschaft allerlei Dinge zu, die da gar nicht hineingehören – von einem “Weltperfektionionierungspostulat” bis hin zur “weltanschaulichen Dominanz”. Zeichen wohl dafür, dass Tetens alles mögliche ist, nur kein wissenschaftlich denkender Mensch. Wissenschaft ist keine Weltanschauung und sie will auch nicht die Welt erlösen.
Sie ist ein klar definiertes System, die Erscheinungen unserer Welt zu erfassen, zu messen zu begreifen. Oder mal Wikipedia zitiert: “Die Wissenschaft ist ein System der Erkenntnisse über die wesentlichen Eigenschaften, kausalen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der Natur, Technik, Gesellschaft und des Denkens, das in Form von Begriffen, Kategorien, Maßbestimmungen, Gesetzen, Theorien und Hypothesen fixiert wird.”
Nicht mehr und nicht weniger: ein in seinen Regeln klar bestimmtes System der Welterkenntnis. Welche Erkenntnisse dabei gewonnen werden, das bestimmt nicht die Wissenschaft. Sie wertet sie auch nicht. Das tun andere. Holm Tetens zum Beispiel, der in seinem Vortrag tatsächlich beweisen will, dass er ein zutiefst religiöser Mensch, mehr Theologe als Philosoph – und tatsächlich ein von Panik getriebener Bewohner der Moderne sei. Kein ernst zu nehmender Wissenschaftler würde auf die Idee kommen, die grandiose Gleich-Gültigkeit des Kosmos als eine “düstere Diagnose” zu bezeichnen. Dass Tetens dann einer “Mehrheit unter den Intellektuellen” gar ein “Zwiedenken” unterstellt, ist geradezu unterirdisch. Er sagt nicht mal, wen er damit meint, aber er macht am Ende recht deutlich, dass er nicht wirklich Philosoph ist, sondern Prediger, indem er einfach unterstellt, Wissenschaften lüden “tendenziell immer wieder zum Gedanken an eine Selbsterlösung ein, den sie zugleich von ihren inhaltlichen Resultaten her eigentlich verbieten und ausschließen.” Das sind dann gleich ein zwei Behauptungen, die dem wissenschaftlichen Denken einfach angeklebt werden, obwohl sie dort überhaupt nichts zu suchen haben.
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Wissenschaft macht genau da einen Punkt, an dem Erkenntnisse als gesichert gelten können (und denkt höchstens drüber nach, ob man die Erkenntnisse vielleicht doch noch ein bisschen weiter treiben kann): Das Weltall ist unendlich, die Erde ein winziges Staubkorn in einer winzigen Galaxis in einem gewaltigen Raum (über den es mehr Fragen als Antworten gibt). Das Leben auf der Erde ist bislang einzigartig. Gut möglich, dass wir allein sind im Weltall und niemand uns rettet, wenn wir unsere Erde zerstören.
Und dann wird Tetens völlig unwissenschaftlich, wenn er behauptet: “Erneut zurückverwiesen auf die wissenschaftliche Sicht der Welt und des Menschen wird die Erlösungsbedürftigkeit der Welt und des Menschen jedoch so offenkundig, dass die Religionen mit ihren Erlösungsbotschaften als mögliche Alternative erst einmal mehr oder weniger attraktiv erscheinen müssen.”
Religion
Alexander Grau; Gerson Raabe, Evangelische Verlagsanstalt 2014, 9,90 Euro
Und das nennt er dann auch noch dialektisch. Wenig später behauptet er gar eine “unbestreitbare Erlösungsbedürftigkeit der Welt”. Das ist reine Theologie. Und auch noch schlechte.
Trotzdem sollte man das Buch an dieser Stelle nicht zuklappen, denn die besten Teile kommen erst im dritten Kapitel.
Dazu mehr im zweiten Teil der Besprechung auf L-IZ.de
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