Es ist kein Band mit Herbstgedichten, auch keiner mit Sportgedichten, auch keiner über Obst und den sorgsamen Umgang damit, auch wenn der Titel irgendetwas in dieser Richtung nahe legt: "Auf die Äpfel hatte der Herbst geboxt". Es ist der erste Gedichtband von Michael Spyra. Einer in besonderer sächsischer Tradition.

Auch wenn er 1983 ein bisschen jenseits der sächsischen Landesgrenzen – in Aschersleben – geboren wurde. Aber in Kontakt mit dem, was man die Sächsische Dichterschule nennen kann, kam er schon 2005, als er in Halle Sprechwissenschaften studierte und in Kontakt mit dem “Halleschen Dichterkreis” und der Schreibwerkstatt von Wilhelm Bartsch kam. 2008 begann er auch noch ein Studium am Leipziger Literaturinstitut. Da kann man gar nicht ausweichen und landet irgendwann in dieser Welt der formbewussten Gedichtarbeit, die der Poetenladen vor einigen Jahren mit einem großen Sammelband zur Sächsischen Dichterschule einmal gewürdigt hat.

Dazu war es gar nicht notwendig, dass die darin vertretenen Autorinnen und Autoren tatsächlich in Sachsen geboren wurden oder hier lebten. Wichtig war der Kontakt zu dieser Schule, in deren Kern begnadete Lehrer standen, die vor allem das Bewusstsein für die maßgebende Form wachriefen. Ganz ähnlich übrigens wie drüben in der Wächterstraße die Leipziger Malerschule den klassischen Formenkanon nicht nur lehrte, sondern lebte – und damit die Grundlage für einen anhaltenden Welterfolg legte.

Bei den Dichtern war es ganz ähnlich, bei all diesen Maurers, Erbs, Pietraß, Gosses, Böhmes, Kirschs, Reimanns und Grünebergers (man kann in dieser Aufzählung nur weglassen, so viele Namhafte sind es): Sie holten genau in der Zeit, in der die (westliche) Postmoderne die völlige Formlosigkeit und die restlose Zerschlagung der Form feierte, das Wissen um den Reichtum der poetischen Formen wieder ans Licht und zeigten, wie Gedichte erst vielschichtig werden, wenn einer Vers, Reim und all das Andere beherrscht, das aus einem bloßen Wortsalat ein Kunstwerk macht. Ein Balance-Akt, das weiß jeder, der sich wirklich ernsthaft mit Gedichten beschäftigt. Die Form verleitet leicht zur Oberflächlichkeit, zum gehämmerten Takt und zum billigen Reim. Zur romantischen Attitüde. Die Welt ist voll davon.

Manches sieht aus wie ein Gedicht und ist doch nur ein Flitter.Die Bartschs und die Hilbigs aber haben bewiesen, wie es geht, wenn man Mumm hat und Phantasie, den Blick fürs Lebendige, die Strenge beim Arbeiten und Überarbeiten, beim Zurechtwalken der Form, bis alles sitzt. Das ist die Schule, der Spyra unübersehbar begegnet ist. Und die er unübersehbar auch gelesen hat, studiert wie der alte Faust, bis ihm der Schädel dröhnte.

Es stehen keine Jahreszahlen dran an seinen Gedichten, die er in diesem Band in drei Kapiteln gesammelt hat: “Beiträge zur Beziehungskunde”, “Ergänzungen zur Naturkunde”, “Anmerkungen zur Sozialkunde”. Man merkt schon hier: Er steckt ganz tief in seiner faustschen Epoche. Er hat das alles studiert und versucht nun, des Pudels Kern zu packen. Ganz systematisch. Und mit viel Phantasie. Das knüpft an die Wurzeln der Sächsischen Dichterschule an, die nicht im 20. Jahrhundert liegen, sondern im 17. Jahrhundert, als sich etwas für die damalige Zeit sehr Neues tat: das Austesten klassischer (barocker) Versformen für neue Inhalte. Die Poesie stieg aus aristokratischen Höhen in die Niederungen der Welt und packte nun ganz irdische Themen an: Krieg, Leid, Sehnsucht, Liebe, Verlust.

Die poetischen Formen wurden zum Spielfeld und die bekanntesten sächsischen Dichter brachten – in strengster gebundener Form – bis heute Herzergreifendes zu Papier. Diese Liebe zur strengen Zucht lebt bis heute in den besten Gedichtbänden der Sächsischen Dichterschule. Oft ist die strenge Zucht der doppelte Boden, der Texte erst vielschichtig macht. Und Leser begeistert.

Spyra beweist in seinen Texten, dass er die strengen Formen im Wesentlichen beherrscht. Und nicht nur das. Er kennt auch die Stimmen, jedes einzelne Gedicht ist ein Spiel mit vertrauten Klängen, als spaziere er durch die Welt der jüngeren und älteren Dichter aus dieser Landschaft und probiere ihre Kleider an – jedes Gedicht ist eine kleine Hommage, ohne dass der Geehrte oder die Geehrte benannt werden. Wer seine Lieblinge hat, wird sie (vielleicht) wiedererkennen – am Ton erkennen, auch wenn Spyra eigene Themen und Geschichten erfindet. Hat man erst einmal die Form, dann bietet sich Manches an, drängt sich sogar auf – natürlich fehlt Goethe nicht. War ja überall der Bursche, man könnte die Landschaft mit lauter Schildern zuhängen: Goethe war hier. Natürlich auch mal in Aschersleben, um hier in die Welt zu gucken. Oder nicht? Das Zwinkern gehört dazu, die sächsische Lust am Aufbrechen der elegischen oder gar hymnischen Töne, die Freude an der großen Geste, die weit ausgreift in den Weltenraum – und sich dann einen kleinen Kaffee bestellt.

Auch Spyra liebt das, greift sich die ganzen irdischen und ernsthaften Motive (die andere Leute anderswo auch ernsthaft besingen würden im Balladenton) und dreht sie mitten im Vers einfach um, diese Möchtegern-Helden. Die Väter zum Beispiel, die viel Besungenen: “Niemals dürft ihr die Väter vergessen …” Wartet da jemand aufs lodernde Lagerfeuer und kampferprobte Mannen? – Drauf gepfiffen: “Die Väter sind wacker und unterdessen / feuerfest und wasserdicht.”Gern und oft verlässt er die Bilder, krempelt sie um oder hängt die Formen gleich mal in den Wind, damit die manchmal auch eitlen Dichterkollegen merken: Die Manier lässt sich nachahmen. Da steckt mehr Bedacht drin als Bedeutung. Etwa wenn Dichter in die große Wir-Pose verfallen. Ein beliebter Topos der ach so schrecklichen 1970er Jahre: “Windig sind wir. Auf den Dächern flattert die Pappe …”

Oder wie wäre es mit dem ein oder anderen Zeitgenossen, der seine Texte mit angelesenen Antikgütern würzt oder gleich gar dem Latein aus dem Medizin-Katalog? – Da lässt Spyra seinen Lessing durchblicken, wenn er von “Durch den blinden Fleck des Augurs zieht / umrankt von Oligodendrozythen …” sich durcharbeitet bis zum hinterlistigen: “So liest er aus der Krähenwolke / was er gewohnt ist und wie zu lesen.”

Da wird sich mindestens einer unter den Lebenden erkennen. Und weil’s ein Sachse ist, wird er’s mit Humor registrieren: Erwischt. Man nimmt sich ja gern wichtig und bombastisch. Die Kunst verführt dazu. Und beeindruckt sind Leser(innen) sehr gern, wenn einer mit Enzyklopädischem um sich schmeißt. Etwa so: “Noli me tangere, hört er sie denken …” – Wer war das nur, der (oder die) das letzte “Noli me tangere”-Gedicht schrieb (und das Gegenteil meinte)? Bei Spyra geht’s flott in die Parodie: “… dann holterdipolter, / sind beide viel Haut aneinander.” Und wer hat eigentlich das jüngste “Es ist schon wieder Sommer”-Gedicht geschrieben? Diese (Jahres-)Zeit der Gefühle? Bei Spyra wird es ein forsches Regenzeit-Gedicht. Er liebt den Wider-Spruch und das Umkrempeln, bis der mitgedachte Schwermut sich entpuppt als Trauerkloß-Gefühl, dem man nur noch ganz ringelnatzisch begegnen kann (auch so einer aus Sachsen). Der ist ihm wohl sogar der Nächste aus diesem Reigen der geschulten sächsischen Dichter. Und dem wäre auch so ein “Landregen”- Gedicht zuzutrauen (wer schrieb nur jüngst wieder mal ein “Landregen”-Gedicht?), das mit Fischen und Muränen beginnt und mit Elefanten und Giraffen endet: “Neoprenhyänen driften, / und die S-Bahn fährt am Aal.”

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Auf die Äpfel hatte der Herbst geboxt
Michael Spyra, Mitteldeutscher Verlag 2014, 9,95 Euro

Es ist ein Gedichtband für Leute, die ihre Freude haben am Spiel mit (klassischen) Formen und Inhalten, und an der sächsischen Dichterlust, die Dinge auch im Gedicht nicht so heikel und ernst zu nehmen. Nichts für die unheilbaren Romantiker, die in Gedichten Herzschmerz suchen. Die wären nur verwirrt über all die Spuren im Text, die überall hin verweisen. In alle sächsischen Himmelsrichtungen. Und ein paar Dutzend Ältere und Jüngere dürften sich ertappt fühlen auf frischer oder verjährter Tat. Das ist eine Dichtung, die von Korrespondenzen lebt, Lieb- und Feindschaften und aufs herzlichste. Und selbst wer die zitierten Dichter nicht erkennt, weil er sie nicht kennt, wird seinen Spaß haben bei diesem fröhlichen Umkrempeln bekannter Sujets aus der schwermütigen Welt der feierlichen Poesie.

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