Hat sich Peter Schwarz, studierter Germanist und Historiker, heute als Immobilienkaufmann tätig, in den letzten Jahren überhaupt noch ein Familienleben gegönnt? Oder saß er die ganze Zeit am Computer, hat Daten zusammengetragen und aus hunderten verfügbaren Quellen Leipzigs Geschichte zusammengepuzzelt? Bis es drei dicke Bände waren. Der zweite liegt jetzt vor: 600 Seiten für rund 150 Jahre.

Es sind die 150 Jahre, die Leipzig zur modernen Großstadt gemacht haben. Dass ausgerechnet Friedrich II. am Anfang steht, ist nur beiläufig ein Zufall. Irgendwo muss man ja eine Zäsur setzen, wenn man 1.000 Jahre Stadtgeschichte irgendwie unterteilen will. Und der Siebenjährige Krieg bietet sich an, weil hier zwei Philosophien aufeinander prallen, die menschliche Gesellschaften bis heute prägen: die alte, nach der Staaten das Recht haben, ihre Interessen auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen und dabei die Ressourcen der Nachbarstaaten zu plündern, wie es Friedrich II. von Preußen 1756 bis 1762 mit Sachsen und Leipzig explizit durchexerzierte, und die neue, die mit der Einsetzung der Restaurierungskommission unter dem neuen Kurfürsten Friedrich August III. (dem späteren König August I.) in Gang kam.

Es war die Zeit des Retablissements, mit dem nicht nur die Kriegsschäden und Kriegsschulden schnellstmöglich überwunden werden sollten, sondern auch die Wirtschaft wieder angekurbelt werden sollte. Oder überhaupt angekurbelt, denn das Sachsen, das schon zehn Jahre nach der preußischen Besetzung und der Plünderung des Haushalts wieder schwarze Zahlen schrieb, war nicht nur ein wieder etabliertes Sachsen, es war ein gänzlich neues. Und daran waren vor allem die Leipziger Professoren und Administratoren in der Restaurierungskommission beteiligt, die dem neuen Fürsten nicht nur ein Sanierungsprogramm für den Staat und den Staatshaushalt vorschlugen, sondern ein Modernisierungsprogramm für die sächsische Wirtschaft. Ihr Programm war es, das in Sachsen das Manufakturwesen erst zum Blühen brachte und das Fürstentum binnen kurzer Zeit zum Vorreiter der vorindustriellen Entwicklung in Deutschland machte.
Ob Sachsen mit dem Ende des Siebenjährigen Krieges aus dem Kreis der europäischen Großmächte ausschied, wie Peter Schwarz schreibt, das darf bezweifelt werden. Bestenfalls gehörte es mal zeitweilig zu den Mittelmächten. Dass Friedrich II., dessen Preußen tatsächlich um einen Rolle unter den europäischen Großmächten buhlte, Sachsen schon 1756 nicht mehr ernst nahm als militärische Konkurrenz, zeigt die rotzfreche Besetzung des Nachbarlandes, das der Preußenkönig damit auch als möglichen Alliierten an der Seite Österreichs komplett ausschaltete.

Aber dass solche starken Sätze bei Peter Schwarz vorkommen, liegt natürlich auch an der bunten Lektüre, die seiner Arbeit zugrunde liegt. Das Literaturverzeichnis zu seinen nun zwei dicken Bänden zur Leipziger Stadtgeschichte zählt im Grunde alles auf, was in den vergangenen 300 Jahren an repräsentativen Büchern zur Leipziger Stadtgeschichte erschien – der größte Teil davon in den vergangenen 25 Jahren. Aber viele Quellen – wie die Arbeiten Gustav Wustmanns – gelten nun seit über 100 Jahren als letzte belastbare Grundlagenforschung. Erst mit den neueren Veröffentlichungen des Leipziger Geschichtsvereins und den (Vor-)Arbeiten zur großen wissenschaftlichen Stadtgeschichte, die 2015 erscheinen soll, werden viele Quellen erstmals wieder gründlich überprüft, neue Fragen an das Material gestellt, neue Einordnungen und Wichtungen vorgenommen. Manches ist dann nicht ganz so groß, wie es da und dort Autoren der Vergangenheit gemacht haben, anderes wird dafür mit neuer Tiefe und Fülle gehoben. Auch dazu kann Schwarz schon einiges zitieren und einarbeiten in seinen gewaltigen Bilderbogen. Der Gang zu Pro Leipzig hat seinem Projekt gut getan, denn dadurch wurde es auch mit zahlreichen Bildern und Karten ergänzt.

Die Karten sind deshalb spannend, weil gerade die Zeit zwischen 1762 und 1914 eine Stadt zeigt, die in mehreren Phasen ihre alte mittelalterliche Enge sprengte und mit jedem Schritt, jeder neuen wirtschaftlichen Phase, auch neue Wachstumsschichten anlegte. Vorstädte hat es zwar schon seit dem Mittelalter gegeben. Aber erst mit der vorindustriellen Entwicklung im Retablissement wuchs das alte, ummauerte Leipzig tatsächlich über sich hinaus.

In Leipzig war diese neue Entwicklung eng mit dem Wirken des Bürgermeisters Carl Wilhelm Müller verbunden, an den das Müller-Denkmal in der Grünanlage vor dem Hauptbahnhof erinnert, seit 2013 auch das restaurierte Müller-Haus in Knauthain. Sein Name wird meist mit der Anlage der ersten Grünanlagen auf dem alten Grabenring um die Stadt in Verbindung gebracht. Aber das verengt den Fokus, denn die alten Mauern und Bollwerke waren ja nicht nur militärisch völlig nutzlos geworden, sie störten auch das wirtschaftliche Wachstum der Stadt. Die neuen Manufakturen und Druckereien entstanden fast alle außerhalb der alten Stadtmauern, im Bereich von Apels Garten im Westen genauso wie in den neu entstehenden Vorstädten im Westen: Friedrichsstadt, Marienstadt, Johannisviertel. Alles Namen, die heute kaum einem Leipziger mehr etwas sagen, obwohl sie im frühen 19. Jahrhundert auch zu den neuen Wohnquartieren des Leipziger (Kultur-)Bürgertums wurden. Als die Schumanns, die Brockhaus, die Mendelssohn hier ihre Wohnungen bezogen, waren die Häuser gerade neu gebaut.

Heute kennt man das Gebiet vor allem als Grafisches Viertel, denn aus den frühen Druckereien entwickelte sich ja im 19. Jahrhundert jener gewaltige Netzknoten aus Verlagen, Druckereien, Bindereien, Kommissionen und Verladestationen, der Leipzig erst zur Buchstadt machte. Natürlich keine Überraschung, wie stark Verleger in diesem 2. Band vertreten sind. Immerhin bildeten sie bis ins frühe 20. Jahrhundert einen nicht geringen Teil der wichtigen und reichen Unternehmerschicht. Die sich aber schon im späten 18. Jahrhundert wesentlich reicher darstellt und wagemutiger – immerhin entstanden neue Handelshäuser, wurden Banken gegründet, erste Fabriken gebaut.

Mal so als Zwischenbemerkung: Die Völkerschlacht war für Leipzigs Entwicklung derart unwichtig, dass man geneigt ist, dieses Kapitel völlig zu überblättern. Es ist eines dieser welthistorischen Ereignisse, die zwar für Stadt und Region dramatische Folgen und Einschnitte bedeuteten, aber tatsächlich nur für die direkt betroffene Personage wichtig waren. In Sachsen und Leipzig hatte man im Retablissement genug gelernt, um auch diesen Einschnitt binnen weniger Jahre zu überwinden und einfach das nächste höhere Tempo anzuschlagen. Denn jetzt setze in Sachsen auch die Mechanisierung der Arbeit ein. Die Zeit der Industriealisierung begann.

Mehr dazu gleich im Teil 2 der Besprechung.

Peter Schwarz “Das tausendjährige Leipzig. 2: Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts”, Pro Leipzig, Leipzig 2014, 29 Euro.

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