Wenn man sich an seine Kindheit erinnert, dann hat das in der Regel auch mit den frühen Abenteuern beim Essen zu tun. In jeder Familie werden Mutters Sonntagsgerichte zur Legende. Omas Küche hat einen unvergänglichen Ruf. Jedes Fest hatte seine besonderen Speisen. Und wenn man sich erinnert, hat man oft sofort wieder der Geruch und den Geschmack auf der Zunge. Denn nie wieder hast es so geschmeckt wie Zuhause. In diesem Fall: zu Hause in Hermannstadt in Siebenbürgen.

Dagmar Dusil gehört zu der Minderheit der Siebenbürger Sachsen, die sich nach dem 1. Weltkrieg und dem Zerfall der Österreichisch-Ungarischen Monarchie Rumänien wiederfand. Durchaus eine lange Zeit anerkannte Minderheit, auch weil man in dieser Ecke Europas immer schon Zuwanderung aus allen Himmelsrichtungen hatte. Und auch Dagmar Dusils Familie ist eine multinationale mit Wurzeln in Polen, Böhmen, Italien. In Hermannstadt – auf rumänisch Sibiu – war das kein Problem. Das war für diese Stadt normal. Auch die Existenz unterschiedlicher Kirchen, Synagogen und Moscheen war normal, war es bis weit in die 1960er Jahre waren. Das war auch eine Zeit, in der auch Rumänien eher keine Probleme kannte, die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln sicherzustellen. Die Probleme begannen erst später. In Hermannstadt war es der Käse, der als erstes zur Mangelware in den Geschäften wurde, erinnert sich Dagmar Dusil. Das einzige, was vorher schon ein Problem war, war das Fleisch. Daran hatte man sich schon gewöhnt und clevere Strukturen entwickelt, um sich dennoch gegenseitig zu versorgen.

Sibiu alias Hermannstadt kommt einem recht schnell vertraut vor. Was es nicht in den Läden gab, gab es auf den Märkten. Und Etliches pflanzte man dann gleich im eigenen Garten an, machte sich weitestgehend zum Selbstversorger und lebte darum auch noch lange im schönen Takt der Jahreszeiten. Und so verbinden sich für Dagmar Dusil ihre Kindheitserinnerungen auch mit den Früchten und Gemüsen, die sich im Lauf des Jahres in die Küche und die Speisekammer verirrten. Eier waren wertvoll, Mehlspeisen eine hohe Kunst. Und nur einen Kummer hat die Autorin heute: dass sie sich als Kind partout nicht für das interessierte, was ihre Mutter in der Küche anstellte.
Manchmal bleiben auch Mütter ein Rätsel, das sich einfach nicht entschlüsseln lässt, auch wenn man es später als erwachsener Mensch immer wieder versucht, weil man ja das uralte Bedürfnis hat, einmal so ein bisschen Anerkennung zu bekommen. Und von wem wäre die Anerkennung schöner? Manche Kinder baden darin in ihrer Kindheit. Aber irgendetwas war da, was es Dagmar Dusils Mutter unmöglich machte, das phantasievolle Mädchen einfach zu nehmen, wie es war. Möglich. das klingt in einigen Szenen an – war es ihre eigene wohl recht strenge Erziehung, die es ihr nie möglich machte, einmal locker zu lassen und nicht die immer mahnende Kontrollmutter zu sein. Man vermutet es. Erzählen kann es auch Dagmar Dusil nicht, auch wenn sie im Nachhinein natürlich schwärmt von den Kochkünsten ihrer Mutter.

Was es ihr eigentlich sogar leicht macht, ihre Kindheit zu erzählen. Denn so kann sie einfach ihren Erinnerungen an all die herrlichen Speisen der Kindheit folgen und ihre Zeit als Kind und Heranwachsende mit all den kleinen und farbenfrohen Beobachtungen zum Alltag in Hermannstadt drumherum flechten. Die Lust auf die Rezepte der Mutter hat Dagmar Dusil schon früher gepackt, als sie nach einem langen Hadern mit der ganzen Kocherei irgendwann selbst anfing, ihre Küche zum Probierfeld zu machen – mit all den Abenteuern, die auch andere Kochanfänger so erleben. Da kommt einem ganz schnell das “Ach hätte ich doch” aus dem Märchen in den Sinn. Doch Frauen haben gerade was das Kochen, Backen und Braten anbetrifft wohl mehr Geduld als die meisten Männer. Die meisten geben nicht auf, bis sie es nicht genauso gut können wie Mutter und Großmutter.

Und weil mit der Sicherheit auch die Experimentierfreude kommt, begann Dagmar Dusil irgendwann, ihre Mutter im fernen Hermannstadt um all die Lieblingsrezepte aus der Kindheit zu bitten. Dagmar Dusil war inzwischen mit ihrer kleinen Familie nach Westdeutschland übergesiedelt, nachdem in Rumänien nicht nur die Versorgungssituation mittlerweile immer prekärer geworden war, sondern auch der Sicherheitsdienst begann, sich auch noch in das Familienleben der Menschen zu mengen. Die Regierenden im kommunistischen Rumänien machten es also genauso falsch wie die in der DDR. Für die Siebenbürger Sachsen kam das (Freikauf-)Angebot der Bundesrepublik also gerade recht und die meisten von ihnen nutzten in den 1980er Jahren die Chance zur Übersiedelung.

Was aber nichts daran ändert, dass sich Dagmar Dusil an eine schöne und vor allem leckere Kindheit in Siebenbürgen erinnert. Und an eine Küche, bei der das Wörtchen international wahrscheinlich viel zu schwach ist. Oder nur zu schwach wirkt, denn die Rezepte streut die Autorin immer dann ein, wen sie in ihrer Erzählung mal wieder einen Höhepunkt erreicht hat. Mal einen Schönen, mal einen dieser herrlich dramatischen, die Kindheit oft so schrecklich aufregend machen. Da merkt man sich dann die strafenden Blicke oder Worte der Mutter besonders. Nie konnte man ihr etwas recht machen … Wirklich nie? Das fragt sich auch Dagmar Dusil und versucht sich an die kleinen Momente zu erinnern, in denen ihre Mutter einmal ein wenig auftaute und kleine Gesten der Zustimmung zuließ. Bei ihrem Vater, dem Orchestermusiker, war das immer anders: Der liebte seine Tochter aus vollem Herzen und spielte immer den Friedensengel. Aber vielleicht war es genau das, was es in dieser kleinen Familie so schwierig machte. Da geht es den Siebenbürger Sachsen wohl genauso wie den Obersachsen: Als Musiker haben Familienväter manchmal einen ganz schweren Stand. Sind Musiker überhaupt seriös?

Trotzdem werden die Kinder geliebt und verhätschelt, dürfen bei Großmüttern und Urgroßmüttern, Nachbarinnen und Tanten das Leckerste probieren. Und irgendwie war auch das in Rumänien irgendwie so wie in der DDR: Man tauschte emsig Rezepte aus, gerade, wenn es mal seltene Dinge im Laden gab und man damit mal was Neues anstellen wollte.

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Blick zurück durchs Küchenfenster
Dagmar Dusil, Buchverlag für die Frau 2014, 14,90 Euro

Das Buch ist also eigentlich ein doppeltes – eines mit einer sehr lebendigen Erinnerung an Kindheit und Jugend im fernen Hermannstadt, und eines mit lauter leckeren Rezepten, die der Geschichte immer wieder ein Sahnehäubchen aufsetzen und die man natürlich auch selbst ausprobieren kann. Gerade dann, wen man – wie Dagmar Dusil – gemerkt hat, dass es in deutschen Supermärkten zwar eine Menge zu kaufen gibt, man sich die ganzen Fertiggerichte aber irgendwann übergegessen hat und wieder Sehnsucht bekommt nach den ganzen reellen Zutaten, die die Natur freigiebig zur Verfügung stellt. Denn in einer Beinah-Naturalwirtschaft lernt man das ja: wieder mit den Dingen, die zu den Jahreszeiten heranreifen, zu haushalten und Wunderbares zu zaubern. Manches wird dabei zum Lieblings-Familiengericht, manches zum unbedingten Muss an Fest- und Feiertagen, sonst riechen und schmecken diese Tage einfach nicht richtig.

Man kann also so ein bisschen die schöne siebenbürgische Küche entdecken, wo es Godelpussel, Brodelawend, Kutscherkipfel und Evangelisches Huhn gibt, aber auch freudevoll die Entdeckungen aus der türkischen, böhmischen, rumänischen oder ungarischen Küche mitnehmen, die ebenso zufällig in das Leben von Dagmar Dusils Familie geflattert sind – von der (Siebenbürgischen) Pizza über Huhn im Deckel bis zu Zacusca. Jedes Rezept ist eng verbunden mit den Menschen, die die Kindheit der Autorin geprägt haben. Das Ergebnis ist genau jene Suppe, die unsere Kindheitserinnerungen eigentlich ausmachen: ein unverwechselbarer Eintopf aus Gerüchen, Farben, Aromen, Erlebnissen, Orten und Persönlichkeiten, die in diesem kleinen Kosmos unersetzlich sind. Man lebt ja lange, sehr lange in diesem schönen Glauben, dass das immer so bleibt und dass das Leben eigentlich unendlich ist. Die Schmerzen beginnen dann, wenn man zum ersten Mal merkt, dass das ein Trugschluss ist. So ist das Sammeln der alten Rezepte auch ein gelungener Versuch, ein Stück Kindheit einzufangen. Man kann nicht alles wiederbekommen. Aber man kann den Reichtum weitergeben.

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