In seiner jüngsten Streitschrift "Geisterstunde - Die Praxis der Unbildung" beschreibt Konrad Paul Liessmann die verheerenden Folgen der Bildungspolitik im deutschsprachigen Raum der letzten Jahrzehnte. Nach seiner "Theorie der Unbildung - Die Irrtümer der Wissensgesellschaft " aus dem Jahre 2006 präsentiert der Wiener Philosoph und Bildungsforscher nun eine pointierte Bestandsaufnahme des angerichteten "Schadens". Wenig oder zu gering ausgeprägte Kompetenzen bei den Schulabsolventen, die im vermittelnden Wissen eher einen "Bulimie-Ballast" verspüren. In Einrichtungen, die überfüllten (Aus-) Bildungscentern gleichen, in denen schnell und lösungsorientiert (ja, was eigentlich?) ein Abschluss erworben wird.
“Das aktuelle Glücksversprechen der Bildung ist ein falsches, weil es dabei weder um Bildung noch um Glück geht. Es geht, wenn überhaupt, um Abrichtung, Anpassung und Zufriedenheit durch Konsum.” heißt es im Vorwort.
Wogegen es zu streiten gilt, meint Liessmann.
Die Ursachen und erschreckenden Folgen zeichnet er tatsächlich in dunkel-düsteren Farben. Bildung als “Mittelstandsphänomen” sei zu einer Schimäre verkommen, ebenso die aufgeregte und ideologisch aufgeladene Diskussion darüber. Hyperqualifizierungswahn von Mittelstandseltern (“Englisch im Kindergarten”) bis zur Modularisierung und wirtschaftsnahen “Disziplinlosigkeit” an Hochschulen (“Hospitality Management”, “Global Change Management”) sind laut Liessmann Beispiele, Zeichen intellektueller Krater in einer ungebildeten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.
Er kritisiert dabei Konzepte, Methoden, Praktiken, die in die “selbstverschuldete Unmündigkeit” ganzer Institutionen führen. Studenten, die von Eltern begleitet, auf die Jagd nach “Credit-Points” gehen, Lehrkräfte, denen vorrangig Drittmittelakquise und ein gerütteltes Maß an Publikationsquantum abverlangt werden, wobei die Zeit zur freien Forschung schrumpft. Frei forschen? Der frei explorierende Geist sei in den Universitäten im Rückzug, ein Skandal, wenn Studenten Aufrufe für “theoretischen und praktischen Pluralismus” zu starten gezwungen sind, so der Autor. “Geisterstunde” – lautet der Titel der von Liessmann skizzierten Katastrophe.
Dem beschriebenen “Self-Assessment-Test” der Wiener Lehramstsstudenten, den jeder künftige Pädagoge in der österreichischen Hauptstadt besucht (und besteht!), können sich deutsche Nachwuchspädagogen noch nicht unterziehen. Wohl aber – und die Praxis bestätigt es – erfolgt auch hierzulande die Entmündigung der Studenten und Lehrkräfte gleich doppelt: Die Wirtschaft zahlt und bestimmt was gespielt -pardon- geforscht wird.
Schnell, oberflächlich-exakt und zählbar.
Denn auch das Spielen soll ja möglichst früh ein sinnvolles und zielgerichtetes sein. Von klein auf heißt es, sich wissbegierig zu verhalten (Als ließe sich Interesse erzwingen, so Liessmann.), nutzenorientiert “das Leben zu studieren”. Alles ist dabei ein Projekt. Begriffe wie Zeit, Muße, Freiheit und demzufolge notwendiger Zweifel liegen fernab des überschaubaren Weges. Führen nicht zur “Kompetenz”. Ein Wort, zusammen mit “Nachhaltigkeit” im Streit um Platz 1 bei der Häufigkeit von Nennungen im halbintellektuellen Diskurs unserer Zeit.
“Kompetenzen” sind “herzustellen” und “herauszubilden”. “Lesekompetenz”, “Studierkompetenz” und -kein Witz- “Kompetenzkompetenz”. Einer von vielen herbeigerufenen Geistern, die in Studienplänen und Unterrichtskonzepten ihr curriculares Unwesen treiben. Plan- und leicht konsumierbar, Schülern und Studenten verabreicht wie ein Zauberbonbon. Das Problem dabei ist, so Liessmann, Kompetenzen an sich sind zunächst inhaltsleer. Dürften nicht mit Intelligenz verwechselt werden. Doch “Kompetenzen” sind stärker, sind ja so “universell”. Bildung als zielgerichteter, interessierter notwendiger Prozess selbst angeeigneten Weltverständnisses? Durchgefallen. Denn kein Schüler liest Franz Kafka, um eine “rezeptive Kompetenz” zu erwerben.
Kafka selbst würde kein Abitur bestehen, weil “kafkaeske Kompetenz” nirgendwo im Lehrplan vorkommt.
Der “Geisterstunde” möchte man schnell entfliehen. Liessmanns angenehm zu lesende, beharrlich streitbare Polemik vermag zu begeistern, auch wenn der Autor jedes seiner Kapitel “gespenstisch” einleitet. So ist sie, die Situation. Die einer Transformation der letzten Jahre. “Wie von Geisterhand geführt.” Liessmann sieht den fatalen Zusammenhang zwischen Ökonomisierung und “nutzloser” und “unverwertbarer” Forschung, welcher die Dinge in ihrer Komplexität und Selbstwirksamkeit missachtet. An dieser Stelle erinnert er an die klassischen Humanisten und Philosophen von Schiller bis Nietzsche. “Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.” schrieb ersterer in einem seiner “Briefe zur Ästhetischen Erziehung” des Menschen. Damit seien ganz gewiss nicht vorrangig das Videogame oder die PC-gestützte Alltagssimulation gemeint, behauptet Liessmann keck.
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Und er hat recht in der Analogie gegenwärtiger Zustandsbeschreibung: Nur im freien, zunächst zweckfreien Umgang mit Denkschulen, Kunst- und literarischen Werken entfaltet der Mensch die Fähigkeit einer “Anverwandlung der Welt”. Bildet sich umfassend. Kann subjektives Wesen zeitbezogene Kraft und -überdauernde Objektivität erlangen.
Dieser Unterricht jedoch fällt hierzulande aus. Eingespart.
“Dabei wäre alles ganz einfach” schreibt der Wiener Bildungsforscher am Ende jedes Kapitels, ruft zur Reduktion von Kompetenzwahn auf. Zur Mäßigung der sich in Mess- und Vergleichsverfahren gefangenen Schulbürokratie. Schule und Studienplätze sollten Orte der Vertiefung, autonomer Forschung und zunächst theoretischer Lehre sein. Frei von den Geistern der unmittelbaren Anwendung, der Ver(sch)wendung, der Instrumentalisierung des Wissens. Für einen Markt, den doch noch niemand mit eigenen Augen gesehen hat. “Ad fontes! Zurück zu den Quellen!”, hört man Liessmann in seiner Streitschrift gleich den Renaissancehumanisten des späten Mittelalters rufen.
Und dabei braucht auch ein Rousseau (“Zurück zur Natur!”) nicht neu erfunden zu werden, wenn es um intellektuelle Bewältigung des Lebensalltags und nicht zuletzt um gebildetes Urteilsvermögen geht. Aufgeklärt ist man dabei nicht per Mausklick, vorauseilendem Lerngehorsam und im Kontext sich verschärfenden ökonomischen Zwanges. Dies ist man nur selbst. Im eigenen Geist. Im Willen zum Einlassen auf Wissenschaft und Kunst. Als Ausdruck eigener Souveränität. “Eigener gesellschaftlicher Partizipation” würde es Hannah Arendt als eine Voraussetzung politisch aufgeklärter Gesellschaften nennen.
Zur “Ganzheit der menschlicher Natur führend” Friedrich Schiller. Höchste Zeit, an dieser Stelle die “Geister der Unbildung” zu vertreiben, resümiert Liessmann.
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Zum Autor Konrad Paul Liessmann bei Hanser
www.hanser-literaturverlage.de/autor/konrad-paul-liessmann/
Zur Seite von Dr. Konrad Paul Liessmann bei der Uni Wien
homepage.univie.ac.at/konrad.liessmann/
Zum Buch beim Hanser Verlag
www.hanser-literaturverlage.de/buch/geisterstunde/978-3-552-05700-5/
Eine Leseprobe der Streitschrift Liessmanns
http://files.hanser.de/zsolnay/docs/20140904_214949491-97_978-3-552-05700-5-Leseprobe.pdf
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