Die Idee lag schon 2012 auf dem Tisch. Da feierte Leipzig "800 Jahre Thomana" und der Lehmstedt Verlag machte etwas, was er besonders gut kann: Er legte einen opulenten Bildband zur 800-jรคhrigen Geschichte von Thomanerchor, Thomaskirche und Thomasschule vor. In dieser Keimzelle steckte schon ein weiteres Projekt, das jetzt Gestalt annimmt: Eine groรŸe, dreibรคndige Bildgeschichte der Musikstadt Leipzig.

Band 1 ist jetzt da, genauso opulent wie vor zwei Jahren der Thomana-Bildband. Und Thomaner, Kantoren und Kantaten tauchen natรผrlich auch drin auf. Das liegt in der Natur der Sache. Es gehรถrt auch zur normalen Forschungsarbeit von Michael Maul. Pardon: Dr. Michael Maul, denn das ebenfalls 2012 bei Lehmstedt verรถffentlichte Thomaner-Buch โ€œDero berรผhmbter Chorโ€ war die Grundlage seiner Habilitation 2013. Und der Forscher aus dem Bach-Archiv Leipzig weiรŸ natรผrlich schon durch seine Arbeit mehr รผber das musikalische Leben der Stadt als nur das, was mit den Sรคngerknaben aus der Thomaskirche zu tun hat.

Vieles davon berรผhrt sich zwangslรคufig, denn wer zu Johann Sebastian Bach und Thomanerchor forscht, der stรถรŸt logischerweise auch auf die Musik in den anderen Kirchen, auf die musizierenden Studenten, auf den Rat der Stadt, der das alles bezahlen musste, auf die Stadtpfeifer, die natรผrlich genauso wie die Studenten in die Kirchenmusiken eingebunden waren. Der stรถรŸt auch auf das Collegium musicum und Bachs Ausflรผge in die bรผrgerliche Kaffeehauskultur. Der stรถรŸt auf Kantoren, Organisten, Hochschulprofessoren, auf Ratsherren, die รผber die Thomasschule wachen sollten (und sie manchmal auch gern kaputtreformiert hรคtten), auf den Einsatz der Sรคngerknaben bei Beerdigungen und Kollekten, auf Stiftungen und รœberschneidungen mit anderen musikalischen Institutionen, die ab dem 17. Jahrhundert entstanden, als Leipzigs sich so langsam zur kulturvollen Bรผrgerstadt entwickelte.

Was nicht heiรŸt, dass es davor nicht kulturvoll war. Musik wurde hier schon seit 7.000 Jahren gemacht, wie diverse ausgegrabene Musikinstrumente aus der Region beweisen. Und auch im Monat der Leipziger Ersterwรคhnung scheint man Musik gemacht zu haben in Leipzig โ€“ gregorianische Chorรคle vermutet Michael Maul in der Messe fรผr den verstorbenen Bischof Eid.

Das Problem fรผr die frรผhe Geschichte ist natรผrlich die dรผnne Aktenlage. So fehlen wichtige Belege zur mittelalterlichen Stadt. Und erst ab dem 15. Jahrhundert verdichtet sich das Bild, tauchen die diversen Ratsbeschlรผsse zur Bestellung der Stadtpfeifer auf, die ersten Druckwerke, wenn man von dem noch mit Hand gestalteten Thomasgradual oder dem Liederbuch Hartmann Schedels absieht, den die Geschichtsliebhaber vor allem wegen seiner โ€œWeltchronikโ€ kennen. Dass er in Leipzig studierte und auch noch Lieder sammelte, ist dafรผr kaum bekannt. Michael Maul zeigt gerade durch diese vielen kleinen und kenntnisreichen Abschweife, wie viel die Forscher mittlerweile รผber die Musik des frรผhen Leipzig wissen, wie viel davon in weit verstreuten Quellen in ganz Deutschland vermerkt ist. Man muss nur wissen, wo man suchen muss. Denn โ€“ das bringt Maul tatsรคchlich als wichtiges Fazit am Ende des Bandes โ€“ Leipzig als Musikstadt in dem Sinn, wie man das Wort in neuerer Zeit versteht, hat seinen Ursprung in der Tatsache, dass die Stadt รผber Jahrhunderte Anziehungspunkt fรผr Talente aller Art aus allen Himmelsrichtungen war. Nicht nur, wenn es um die Neubesetzung von Thomaskantorenstellen ging. Die seit 1409 in Leipzig heimische Universitรคt war einer der ersten groรŸen Magneten, der talentierte junge Mรคnner nach Leipzig zog. Der Thomanerchor entwickelte sich im 16. und 17. Jahrhundert zu einem รคhnlich wichtigen Magneten โ€“ spรคtestes, als die Thomaskantoren Calvisius, Schein und Kuhnau das Niveau des Chores deutlich anhoben und den Chor fรผr talentierte Sรคnger aus der nรคheren und weiteren Umgebung attraktiv machten.
Was dann den spรคter โ€“ gerade in der Bach-ร„ra โ€“ ausgetragenen Streit mit der Obrigkeit herbeifรผhrte. So mancher Bรผrgermeister fand es gar nicht gut, dass in der Thomasschule die auswรคrtigen Sรคnger dominierten und die heimischen (oft gar nicht begabten) Knaben nicht aufgenommen wurden.

Diese Jahrhunderte sind dann schon recht gut dokumentiert, was Maul die Mรถglichkeit gibt, wichtige Entwicklungen in kleinen, pointierten Texten zu schildern โ€“ zuweilen so deftig betitelt, als wรคren es kleine Zeitungsaufmacher. Wรคren es ja auch gewiss geworden, wenn es damals schon Zeitungen gegeben hรคtte oder die ersten Zeitungen solche Themen aufgegriffen hรคtte. Ein Zoff zwischen Thomaskantor und Obrigkeit โ€“ heute wรคre das ein gefundenes Fressen fรผr die Medien.

Natรผrlich stecken dahinter auch immer elementare Konflikte. Und dem neuen Kantor Bach hatte man ganz sicher nicht erzรคhlt, dass man gerade die Schulordnung รผberarbeitet hatte und ihm eigentlich die Sรคngerknaben abspenstig machte. Nicht der einzige Konflikt, den Bach da auszustehen hatte. Eine Stadt, die derart musikversessen war, bot ein rechtes Tummelfeld fรผr Talente, die sich beweisen wollten. Neue Institutionen entstanden und sorgten โ€“ wie die Oper โ€“ fรผr eigene Schlagzeilen. Der Buchdruck wurde auch zur Basis fรผr ein blรผhendes Musikverlagswesen. Der Musikverleger Breitkopf taucht natรผrlich am Ende noch genauso zwangslรคufig auf wie das GroรŸe Konzert, der Glanz der groรŸen Primadonnen (Goethes gefeierte Corona Schrรถter etwa) oder der Bau des ersten Gewandhaussaales oder der frรผh einsetzende Leipziger Instrumentenbau. Hiller, WeiรŸe und Tromlitz sind so einige der letzten Namen, bevor Michael Maul so um 1775 die Schere ansetzt und diesen ersten Band beendet.

Viele Bilddokumente sind in diesem Band erstmals verรถffentlicht, Vieles ist erstmals in dieser Kompaktheit erzรคhlt. Denn die gewรคhlte Form des Bildbandes ermรถglicht, die ganze Geschichte in chronologischer Stringenz zu erzรคhlen, so dass Zeitgenossen auch beieinander stehen und begreifbar wird, wer wo alles mit wem zu tun hatte. Im Grunde kรถnnte man fรผr jedes Jahrhundert gleich noch eine Stadtkarte zeichnen und einmalen, wer alles wo wohnte, komponierte, sang, musizierte und schmollte. Leipzig war ja bis ins frรผhe 19. Jahrhundert eine sehr kompakte Stadt. Und Maul versucht auch eine Antwort auf die Frage, die Bach-Forscher seit einiger Zeit beschรคftigt: War Bach denn nun zu Lebzeiten berรผhmt? Oder kannte und besuchte ihn โ€“ auรŸer anderen Musikern โ€“ sonst kein Mensch, wenn er mal in Leipzig auf Durchreise war?

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Musikstadt Leipzig in Bildern
Michael Maul, Lehmstedt Verlag, 24,9 Euro

Ein Gottsched-Spruch deutet zumindest an, dass es Bach ging wie so Vielem, was wir heute an Leipzigs Geschichte so wichtig finden: Er gehรถrte zum Normalinventar dieser Stadt. Deswegen fand es wohl kaum ein Zeitgenosse wichtig, davon groรŸes Aufhebens zu machen. Wir kรถnnen also froh sein, dass Bach รผberhaupt in Mizlers โ€œMusicalische Societรคtโ€ eintrat, sonst hรคtte er wohl auch nie ein Bild von sich malen lassen, jenes HauรŸmannsche Portrรคt, das heute alle kennen. Das Bild war Bedingung fรผr die Aufnahme in die Societรคt.

Wo Michael Maul also noch regelrecht nach Dokumenten suchen muss, mit denen sich die frรผhe Musikstadt Leipzig bildhaft machen lรคsst, wird es im zweiten Band natรผrlich ganz anders sein. Den legt dann Doris Mundus in den nรคchsten Tagen vor. Und man ahnt schon, welche ganz andere Quellenlage da zur Verfรผgung steht, wenn Band 2 sich ganz dem 19. Jahrhundert widmet und dann noch mehr als genug Stoff bleibt fรผr einen dritten Band, der dann das 20. Jahrhundert umfassen soll.

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