Der "Grimsehl" ist ein echter Klassiker - ganze Generationen von Physikern und Leuten, zu deren Berufs- und Arbeitsfeld Physik gehört, sind damit aufgewachsen. 1909 kam der erste "Grimsehl" auf den Markt, herausgegeben vom Leipziger Teubner Verlag. Sein Autor ist Legende. Sein Todesort auch: Langemark.
Am 30. Oktober 1914 fiel Ernst Grimsehl als Oberleutnant und Kompanieführer im Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 213 bei Langemark. Der Ort ist zum Mythos geworden, auch wenn die blutigen Verluste, die im Heeresbericht mit dem Ort Langemarck (später ohne das c) verknüpft wurden, wohl an einem anderen Ort auf dem Feld der Flandernschlacht stattfanden. Tausende junger Kriegsfreiwilliger wurden im Oktober und November 1914 in dieser ersten Flandernschlacht regelrecht verheizt. Die Nationalsozialisten missbrauchten das blutige Gemetzel später zur Erfindung des “Langemark-Mythos”, auch wenn diese Schlacht einer der frühen und rücksichtslosen Versuche der deutschen Heeresleitung war, dem Krieg nun doch noch mit aller Macht eine Wendung zu geben, nachdem der Schlieffen-Plan so gründlich in die Hose gegangen war. Die Regimenter, die damals in Westflandern zum Einsatz kamen, waren eben nicht nur mit Kriegsfreiwilligen – zum großen Teil Studenten – bestückt, sie waren noch dazu schlecht ausgebildet und wurden wirklich regelrecht verheizt.Auch Grimsehl war Freiwilliger, auch wenn er schon längst nicht mehr in dem Alter war, in dem man sich zum Kriegsdienst melden musste. 1861 geboren, gehörte er längst zum alten Eisen, war Reserveoffizier und hatte sich in der Welt der Wissenschaft längst einen Namen gemacht. Nicht als Forscher. Sondern als Autor des wichtigsten Physiklehrbuches seiner Zeit. Und auch das kam nicht von ungefähr. Grimsehl gehörte zu jenen Pädagogen seiner Zeit, die hohes fachliches Können auch mit dem Wunsch verbanden, die Ausbildung in den Schulen auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet zu verbessern. Seit 1885 als Lehrer in Hamburg, verschaffte er sich schnell einen Ruf als ein Pädagoge mit soliden mathematisch-physikalischen Fähigkeiten. Wahrscheinlich war er ein Physiklehrer, wie ihn sich heute noch tausende Schüler wünschen würden, wenn sie es dürften – fähig, nicht nur die abstrakten Zusammenhänge zu vermitteln, sondern auch bestrebt, den Physikunterricht für die Schüler zu einem nachhaltigen Erlebnis zu machen.
Ab 1892 war er beauftragt, eine Gerätesammlung für den Physikunterricht aufzubauen. Dabei entwickelte er hunderte Apparaturen zum Demonstrieren physikalischer Effekte, die von der Firma A. Krüss damals weltweit exportiert wurden und die es in ähnlicher Konstruktion bis heute in den Lehrkabinetten der Schulen gibt. 1909 wurde er an die Oberrealschule auf der Uhlenhorst versetzt, wo er 1909 Direktor wurde. Seit 1903 trug er auch einen Professorentitel, ernannt wurde er vom Senat der Hansestadt Hamburg. So wurden damals hervorragende Pädagogen noch ausgezeichnet, auch wenn sie keinen Lehrstuhl an einer Universität hatten.
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Und sein Ruf erreichte natürlich auch den wichtigsten Wissenschafts- und Schulbuchverlag der Zeit: Teubner in Leipzig. Und dort zögerte man nicht lange, den augenscheinlich begabtesten Mann im Reich, wenn es um die Vermittlung physikalischen Grundlagenwissens ging, zu beauftragen, das maßgebliche Physik-Lehrbuch zur Ausbildung von Physikern, Naturwissenschaftlern und Technikern zu schreiben. Eine Aufgabe, in die sich Ernst Grimsehl augenscheinlich mit Feuereifer stürzte. 1909 kam dieses erste “Lehrbuch der Physik” heraus, 1.064 Seiten dick, mit 1.091 Abbildungen gespickt, fast das gesamte physikalische Wissen seiner Zeit umfassend und für Lernende leicht nachvollziehbar aufbereitet. Schon 1911 musste eine 2. Auflage erscheinen. Der Teubner Verlag hatte – wie so oft – eine echte Angebotslücke entdeckt. Irgendwie war’s ja damals wie heute: Eine wachsende Wirtschaft und eine blühende Forschungslandschaft brauchten immer mehr technisch-physikalisch ausgebildete Fachleute.
Und parallel dazu wuchs natürlich das physikalische Wissen. 1914 musste Grimsehl sein Standardwerk noch einmal überarbeiten und deutlich erweitern. Diese 3. Auflage erschien erstmals in zwei Bänden. Erlebt hat der emsige Physiklehrer wohl nur noch das Erscheinen von Band 1. Band 2 erschien erst 1916, nachdem auch der erwählte Nachfolger Grimsehls – sein Schwiegersohn Georg Wilhelm Koch – auf dem Schlachtfeld verblutet war.
So nebenbei fragt man sich: Wieviele Vertreter der damaligen deutschen Intelligenz sind eigentlich in den Schützengräben des 1. Weltkrieges verreckt? Wie viele kluge Köpfe hat das Land damals verloren? Und – auch diese Frage stellen sich die beiden Autoren dieses Buches: Warum meldeten sich überhaupt gestandene Leute wie Ernst Grimsehl für den Kriegsdienst? Reichen da Worte wie Vaterlandstreue, Pflichtbewusstsein oder Patriotismus, um diesen Vorgang zu begreifen?Ein Thema, das in der ganzen Schuld-und-nicht-Schuld-Diskussion bei der Verursachung des 1. Weltkrieges in den letzten Jahren kaum berührt wurde. Die Grundlagenforschung dazu fehlt, auch wenn sich selbst jetzt noch die Bücher stapeln, die über “Dichter im Weltkrieg”, “Gelehrte im Schützengraben” oder Ähnliches referieren. Denn tatsächlich käme man dabei in einen Bereich, der bis heute spannend und wichtig ist: Wie kann ein Volk dermaßen für einen Krieg aufgeheizt werden wie das damals im Kaiserreich war und später auch bei den Nazis? Kann man ganze Völker auf Krieg programmieren und – wie das ja 1914 eindeutig der Fall war – eine Atmosphäre erzeugen, in der Leute wie Grimsehl gar nicht anders können, als sich eiligst freiwillig zu melden, um dann mit seiner Kompanie einfach im Felde zu verrecken?
Zumindest lautet eine Antwort: Man kann. – Nur scheint das die heutigen Historiker auch nicht allzu sehr zu interessieren. Das würde nämlich andere Fragen provozieren. Und die würden ans Eingemachte gehen – und sie würden sehr viel mit unserer Gegenwart zu tun haben. Mehr als der “arme Grimsehl”, dessen Lehrbuch fast ein Jahrhundert lang das absolute Standardwerk für angehende Physiker war. 27 Auflagen erlebte es bis 1991. Da war es dann schon auf vier dicke Bände angewachsen und ganze Autorenkollektive hatten daran mitgearbeitet. Auch durchaus verwirrende Gestalten wie ein Rudolf Tomaschek, der der so genannten “Deutschen Physik” anhing und noch in den 1930er Jahren, als kein ernsthafter Physiker mehr vom Äther sprach, die abgehalfterte Äther-Theorie vertrat.
Ab 1952 verschwand dieser Unfug dann auch aus dem “Grimsehl” wieder, der jetzt schon auf drei Bände angewachsen war. Natürlich erzählen die beiden Autoren nicht nur die viel zu kurze Lebensgeschichte von Ernst Grimsehl, sondern auch das Schicksal des Lehrbuches, das bis 1991 seinen Namen trug. Auch 1999 wieder getragen hätte, denn der Teubner Verlag war – nun mit vereinten Kräften in Ost und West – daran gegangen, das Standardwerk mit exzellenten Fachleuten wieder auf den neuesten Stand der Forschung zu heben.
Ernst Grimsehl (1861 – 1914)
Jürgen Weiß; Werner Stolz, Edition am Gutenbergplatz, 19,50 Euro
Doch dieser 28. “Grimsehl” wurde – wie so Vieles aus dem hochkarätigen Teubner-Programm – Opfer des Verlagsverkaufes und blieb Manuskript. Womit dann auch die Ära Grimsehl endete.
Das handliche Buch würdigt den begnadeten Pädagogen und Lehrbuchautoren jetzt zu seinem 100. Todestag und erinnert damit eher still und beiläufig daran, wie irrational Kriege selbst in der scheinbar so nüchternen Welt der Wissenschaftler hausen, aus erstklassigen Pädagogen billiges Kanonenfutter machen. Wenn Generäle Weltgeschichte machen, bleibt von Dichtern und Denkern nicht viel übrig.
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