Es wird mal eine Zeit geben, da werden die alten Bestände solcher Verlage wie des Engelsdorfer Verlages für Historiker richtig wertvoll werden. Nicht weil hier vielleicht ein verkanntes Dichtergenie veröffentlicht hätte, dass es im 24. oder 25. Jahrhundert zu entdecken gilt, sondern weil hier ein paar Menschen ihre Lebenserinnerungen veröffentlicht haben, die auch das zeigen, was in den großen opportunen Geschichtsdarstellungen nicht vorkommt.

Und in den oft genug von Ghostwritern geschriebenen Biografien der politischen Berühmtheiten der Zeit auch nicht. Schon in den Schulbüchern der Gegenwart wird Geschichte geschönt, geglättet, auf simple, einprägsame Formeln gebracht – die tatsächlichen menschlichen Schicksale, Umbrüche, die Widrigkeiten und Wechsel kommen nicht vor, selbst in der üblichen Jubeltagsberichterstattung der Presse nicht. Auch weil viele Historiker Geschichte auch heute noch als großes Schachspiel der Könige und Feldherren begreifen. Das Volk ist bei ihnen immer nur Verfügungsmasse, zufällig in die Schlachten der Hochdekorierten geworfenes “Menschenmaterial”. Im Jahr 2014 wieder schön durchexerziert mit dem 1. Weltkrieg und der Narrendebatte der Groß-Historiker: Ja, wer war denn nun schuld an diesem Krieg? Der deutsche Kaiser oder die anderen Mächtigen?

Wie lange wird es dauern, bis Geschichtswissenschaft lernt, Geschichte tatsächlich als Prozess zu begreifen, als multimodalen Prozess, um dieses hübsche Wort mal zu verwenden, in dem eben nicht nur Staatsregierungen und Heeresführungen agieren, sondern auch wirtschaftliche, kulturelle, soziale Prozesse als tragend begriffen werden? Da mag der Einzelne, der irgendwie subaltern in sein Leben geworfen ist, zwar nicht allzuviel Macht über die Ereignisse haben. Aber die Wahrheit ist: Geschichtliche Eruptionen entstehen nicht, weil ein Häuflein Revolutionäre im plombierten Zug nach Russland fahren, sondern weil viele kleine Leben erst ein großes Ganzes ergeben – oder ein großes Ganze erodieren lassen, so wie die DDR schon deutlich vor dem Herbst 1989.Wolfgang Großmann gehört auch zu diesem Herbst 1989 – aber mal an einer ganz anderen Stelle. Als in Leipzig die Arbeiter, Angestellten, Künstler und Intellektuellen auf die Straße strömten, war er Lehroffizier an der Offiziershochschule der Nationalen Volksarmee (NVA) in Löbau/Zittau. Und wer’s nicht glaubt: Auch dort konnte man landen, wenn man in der DDR die Nase voll hatte. Es wirkt skurril, aber es war wohl genau so, denn vorher war Großmann seit 1962 Lehrer in Leipzig gewesen – und zwar kein wenig berühmter. Über seine Arbeit an der 16. Schule – damals noch Polytechnische Oberschule – in der Konradstraße im Leipziger Osten hat insbesondere die LVZ immer wieder berichtet. Denn Großmann schaffte es – im Verein mit anderen jungen Lehrern – die durchaus problematische Lernatmosphäre an der Schule zu verändern. Der Leipziger Osten war auch damals kein einfaches Arbeitsgebiet und die 16. und die 18. Schule hingen im Leipzigvergleich weit hinterher.

Doch Großmann und seinen Kollegen gelang es augenscheinlich wirklich, den Kindern aus dem alten Arbeiterviertel wieder die Lust am Lernen und Mitmachen beizubringen – was sich sogar mit dem damaligen sozialistischen Schulmodell vertrug. Ein Engagement, das Großmann augenscheinlich prädestinierte, ab 1972 auch in die Rolle eines stellvertretenden und später hauptamtlichen Direktors hineinzuwachsen. Was aber freilich auch eine direkte Begegnung mit der Bürokratie der damaligen Volksbildung bedeutete. Schon die ersten Kapitel, in denen Großmann über seine Lehrerzeit erzählt, geben einen recht erhellenden Einblick in das Funktionieren eines solchen Apparates – und das Erstaunliche für heutige Lehrer dürfte wohl sein, dass sich Bürokratien dieser Art immer wieder aufs Verblüffendste ähneln.

Da kann einer schon bewiesen haben, wie er den Laden umkrempeln kann, wenn er Unterstützung findet – an der nächsten Schule kann er mit voller Wucht auflaufen, weil ihn sein Vorgesetzter am langen Arm verhungern lässt. Und auch sein zweiter Einsatz als Direktor an der 62. Schule endete im Konflikt – diesmal hatte Großmann nach Jahren der Gängelei durch die Leipziger Schul- und Parteibürokratie selbst die Nase voll, denn seine Arbeit als Direktor fand nicht wirklich viel Anerkennung, dafür durfte er immer wieder rapportieren, warum er sein Bringesoll für freiwillige Berufssoldaten nicht brachte. Das war schon 1980/1981, die Zeit, als sich die Schule in der DDR immer mehr militarisiert wurde und – mitten im Frieden – eine vergreiste Staatsführung daran ging, das Land auf einen Ernstfall vorzubereiten, der nur in den Köpfen der bornierten Alten existierte.

Großmann machte das, was in der DDR in solchen Fällen durchaus normal war: Er machte einen Rösselsprung – und bewarb sich lieber als Lehrausbilder bei der NVA. Da konnte ihn dann wenigstens niemand mehr nötigen, Kinder zum freiwilligen Militärdienst zu überreden. Stattdessen brachte er Offiziersanwärtern bei, wie man Soldaten motivieren kann, statt sie einfach zu schikanieren. Irgendwie auch ein Thema, das in der DDR mehr als stiefmütterlich behandelt wurde. Das einzige Lehrbuch, das zur psychologischen Mannschaftsführung existierte, war ein altes sowjetisches Werk auf dem Stand des Großen Vaterländischen Krieges. Als 1989 die Ereignisse auch an der Offiziersschule in Löbau/Zittau alles ins Fließen brachten, steckte Großmann gerade in der Erarbeitung eines eigenen Lehrbuches zur Militärpädagogik für die NVA.Das dann zwangsläufig nicht mehr zustande kam, während der Herbst 1989 auch über die Offiziersanwärter hereinbrach und in Diskussionen auch dort offen legte, wie die Risse mitten durch die Gesellschaft gingen – Hardliner und Betonköpfe auf der einen Seite, Moderate und Reformwillige auf der anderen. Ein leider recht kurzes Kapitel, in dem Großmann zumindest am Rande erwähnt, dass man zum Einsatz in Dresden dann doch lieber die moderaten Offiziere schickte und die Betonköpfe in der Kaserne ließ.

Danach stand sowieso die Reform der NVA auf der Tagesordnung und spätestens nach der Volkskammerwahl im März 1990 die Frage: Was bleibt von der Truppe übrig im vereinigten Deutschland? Dass es die Offiziershochschule nicht sein würde, war absehbar, auch wenn die neu gewählten Politiker selbst noch nicht so recht zu wissen schienen, was sie mit all dem Bembel wirklich anfangen wollten. Das Ergebnis war: Großmann fand sich 1991 wie so viele andere ohne Uniform im Leben wieder und musste sich ein neues Betätigungsfeld suchen. Sein Glück: Pädagogen, die fähig waren, Menschen zu motivieren und bei der Neuorganisation ihres Lebens zu unterstützen, waren im Grunde die Leute der Stunde. Sie wurden dringend gebraucht, als Tausende Betriebe hunderttausende Beschäftigte freisetzten, die nun verzweifelt nach einem Neustart im Erwerbsleben suchten. Und so landete Großmann fast zwangsläufig an einer Privatschule, die auf diesem Feld bis heute deutschlandweit tätig ist. Tatsächlich hängte er am Ende noch ein paar Jahre dran, weil man augenscheinlich seine Fähigkeiten zu schätzen wusste. Ein guter Lehrer bleibt irgendwie doch ein guter Lehrer, egal, wo man ihn hinstellt.

Großmann zitiert auch fleißig aus Dokumenten und Tagebuchaufzeichnungen, so dass man vom Jargon der Zeit auch noch einiges mitbekommt. Am Ende hat man dann auch ein bisschen was über pädagogische Didaktik gelernt, über die Bruchstellen eines Landes namens DDR sowieso.

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50 Jahre Lehren und Lernen
Wolfgang Großmann, Engelsdorfer Verlag 2014, 12,00 Euro

Was den Bogen dann schließt zu einem Blick auf Geschichte, wie er bis heute selten ist, auch wenn ihn ein nicht ganz unwichtiger Historiker und Wirtschaftswissenschaftler der DDR wie Jürgen Kuczynski immer wieder angemahnt hat, auch exemplarisch aufgearbeitet in seiner “Geschichte des Alltags des deutschen Volkes”.

Aber selbst bei seinen DDR-Kollegen fand er damit wenig Gehör. Just als es im Lande zu kriseln begann, kehrten sie fast alle wieder auf die alte Königsebene zurück, holten Friedrich II. und Bismarck wieder aus der Versenkung. Und so läuft die eigentliche Geschichte weiter ab – fast unbeobachtet, unbehelligt von den Granden der großen Historiografie, die alles an “Persönlichkeiten” aufhängen und die ganzen Subalternen nur auflaufen lassen, wenn man mal wieder schöne Parade-, Demonstrations- oder Schlachtfeldbilder braucht, gern von oben fotografiert, von der Rednertribüne oder vom Feldherrenhügel.

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