Den meisten seiner Leser ist Steffen Mohr vor allem als Autor kniffliger Detekivromane in der Tradition von Gilbert Keith Chestertons Pater-Brown-Geschichten bekannt, dem einen oder anderen auch durch seine Rätselkrimis. Jetzt hat er auch mal ein kleines Jugendbuch vorgelegt - extra für Ministranten. Aber es geht dem streitlustigen Autor natürlich um mehr.
Und das hat eigentlich nur indirekt mit Tarcisius zu tun, der in diesem Fall mal keine Erfindung des phantasiereichen Autors ist, sondern ein nicht ganz unberühmter jugendlicher Held der christlichen Legenden – ein römischer Junge, der von einer Horde Jugendlicher im Rom des 3. Jahrhunderts zu Tode geprügelt wurde und später zum Schutzheiligen der Ministranten wurde.
Die Welt der Ministranten kennt Steffen Mohr gut, immerhin gehört er zur kleinen, rührigen katholischen Minderheit in Leipzig. Das ist in heutigen Zeiten kein Problem mehr – in den Zeiten, als er selbst ein Leipziger Straßenjunge, Schüler und Jugendlicher war, war es eins. Deswegen flackert durch einen Teil seiner Geschichte auch ein Aspekt seines eigenen Lebens, verpackt in die Rahmenerzählung, die in der Gegenwart spielt. Aber auch da geht es nur vordergründig um die Freude dreier Jugendlicher am Entwurf eines ganz besonderen Altars für den Fronleichnamsumzug. Denn die rothaarige Johanna steckt zwischen den Fronten, hat hier ihre Freunde aus der Kirche, dort die Jungen, mit denen sie früher noch Fußball gespielt hat und denen das Kirchenleben partout fremd ist. Sie können damit nicht nur nicht umgehen, sie fühlen sich sogar regelrecht provoziert – und sorgen dann entsprechend für Verwicklungen und ein bisschen Dramatik. Das muss sein, sonst wäre es ja kein Jugendbuch und ein launiges Happyend auch nicht möglich.
Alles spielt in den Ferien, in denen ostdeutsche Kinder ja sowieso oft nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen – die Eltern müssen arbeiten und können sich eine gemeinsame Urlaubsreise irgendwo ins Warme auch nicht leisten. Johanna geht damit noch sehr souverän um, auch wenn ihre Mutter alleinerziehend ist und im Supermarkt in Schichten arbeitet. Dafür bleibt für das Kind mehr Zeit zum Lesen. Und wenn sich in der Sakristei schon ein altes Tagebuch findet, dann will sie natürlich auch wissen, was drinsteht.
Und so tut sich in Johannas Ferienerlebnissen die zweite Ebene auf und die Geschichte eines Jungen wird lebendig, der irgendwann in den 1950er Jahren erlebte, wie man mit Widerspruchsgeist und kritischem Eigensinn sehr schnell die Härte der bornierten Staatsmacht erleben konnte und wie selbst eine Freundschaft kaputtgehen konnte, wenn der eine keine Skrupel kennt, die Mächtigen herauszufordern und der andere, weil er um die Folgen weiß, doch lieber den Kopf einzieht. Der Andere ist natürlich der Autor des Tagebuchs. Und Manches deutet darauf hin, dass er auch heute noch in dem Städtchen lebt, in dem Mohr seine Geschichte spielen lässt.
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So entwickelt sich das Ganze auch noch zu einer kleinen Detektivgeschichte, in der die Kinder auf Spurensuche gehen und auch die Hilfe der Alten nicht scheuen. Die wissen ja immerhin deutlich mehr über die Vergangenheit, über die Menschen im Ort und ihre Verwicklungen und Verstrickungen. Und sie können manchmal auch noch die alte Schreibschrift, die Sütterlinschrift lesen. In diesem Fall ist es die Tarcisius-Geschichte, die in dieser ab 1915 in deutschen Schulen gelehrten Schrift geschrieben ist.
Natürlich korrespondieren alle drei Erzählebenen miteinander. Immer geht es um den Mut, zu dem zu stehen, was man als junger Mensch für richtig und wichtig erkannt hat. Und die Botschaft ist so schön einfach wie schwer: Es erfordert zu allen Zeiten Mut und – noch besser – gute Freunde, die einem beistehen, wenn es brenzlig wird.
Es ist also doch nicht nur eine Geschichte für Ministranten. Auch wenn sie natürlich auch ein fröhliches Plädoyer für das Leben in der jungen Gemeinde ist. So ganz nebenbei zeigt Mohr auch, dass Konflikte auch ein Moment des Lernens sind. Wie geht man damit um? Wie löst man sie? Und es ist nicht wirklich von vornherein klar, dass es nicht auch in der flotten Rahmenerzählung zu wilden Prügeleien kommt. Wenn die Emotionen erst mal hochkochen, passiert so etwas schnell. Aber auch der alte Dreifinger-Joe muss zum Glück nicht handgreiflich werden.
Tarcisius
Steffen Mohr, St. Benno Verlag 2014, 6,95 Euro
Und warum gerade Léon so austickt, merkt man natürlich bald. Denn gerade in der Jugend ist die Frage “Dazugehören oder nicht?” eine ganz elementare. Eine, die nicht immer einfach zu beantworten ist, gerade dann, wenn die Gruppe der anderen so derart fremd ist. Man zieht sich ja den Glauben nicht einfach an wie ein Hemd. Aber wie geht man um damit, dass die Freunde und Freundinnen zum Teil in völlig fremden Welten zu Hause sind? Lernt man das irgendwo?
Es ist also auch ein kleiner, freundlich erzählter Beitrag zur heutigen (ost-)deutschen Gemengelage und der Frage, wie eine sich zunehmend differenzierende Gesellschaft es vermag, trotzdem Respekt und Kommunikation zu üben, die Vielfalt als Reichtum zu begreifen. Eine uralte Frage, wie die Tarcisius-Geschichte beweist. Moderne Gesellschaften müssen damit umgehen lernen. Schön ist es natürlich, wenn es so klappt wie in Mohrs Geschichte. Aber auch das gibt’s nicht ohne die Mühe von allen, ihr Scherflein dazu beizutragen. Meckern und grimmig gucken kann jeder. Am Ende ist es Johanna – und das hat sie irgendwie auch von Dreifinger-Joe gelernt – die sich immer wieder die Zeit nimmt, ungewöhnliche Lösungen für schier unauflösbare Probleme zu suchen. Aber es geht wohl auch nur so: Wer nicht um drei Ecken denken kann, wird nie aus dem Schlamassel finden.
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