Die Starthilfen aus der Edition am Gutenbergplatz Leipzig sind ja im Grunde für Studienfänger gedacht, junge Leute, die schon in der Schule gezeigt haben, dass sie ein logisches Köpfchen haben und die dann solche Fächer belegen wie Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik. Prof. Dr. Wolfgang Freudenberg lehrt das an der Brandenburgischen TU Cottbus-Senftenberg. Es gehört zum großen Feld der Wirtschaftsmathematik.

Und das hat Markus Gäbler studiert, der dann irgendwann seinen Prof. überredete, das Material seiner Vorlesungen, die er erst in Jena und dann an der TU Cottbus-Senftenberg hielt, in ein Buch zu packen. Da können sich die künftigen Mathematiker gleich einlesen in das ganze Feld der Zufälle und Wahrscheinlichkeiten, egal, ob sie dann später mal Statistiker werden wollen oder die Wirtschaftstheoretiker ein bisschen ärgern wollen. Denn das, was sie da lernen, ist auch die elementare Grundlage aller Wirtschaftsprognosen. Oder sollte man besser schreiben: ist sie nicht? Weil die üblichen Wirtschaftsinstitute zwar mit lauter Formeln hantieren und selbst für ein dubioses Machwerk wie TTIP schon aufs Hundertstel genau ausrechnen, wie Exportquoten steigen und Arbeitslosenraten sinken, – aber dabei eine Prognose-Genauigkeit behaupten, die mathematisch nicht belastbar ist.

Würden die hoch dotierten Institute nicht auch noch die Bundesregierung als “Wirtschaftsweise” beraten, man wäre nicht ganz so besorgt. Aber sie tun es. Und sorgen für den allgegenwärtigen Rauch und Nebel, der Wirtschaftsprozesse mystifiziert und gleichzeitig verheißt, man könne die künftige Entwicklung so genau berechnen wie den Energieverbrauch ein Maschine.

Kann man aber nicht.Je komplexer Systeme sind, umso größer werden die möglichen Varianzen. Faktoren beeinflussen sich gegenseitig, sorgen dafür, dass sich voneinander abhängige Prozesse neu ausrichten.

Und dabei fangen die Unwägbarkeiten gar nicht erst an, wenn man es mit komplexen gesellschaftlichen Modellen zu tun hat. Sie fangen schon beim simplen Würfelspiel an. Eigentlich bei jedem Spiel, das Menschen mit- und gegeneinander spielen. Es ist der Reiz der Wahrscheinlichkeit, der den Spieltrieb befeuert. Den richtigen Trumpf auf der Hand zu haben, ist sehr wahrscheinlich. Aber nicht sicher. Bei Glücksspielen wie Roulette sind die Siegchancen noch geringer, die Chancen, den Einsatz zu vervielfachen, aber höher. Eine echte Herausforderung nicht nur für Spieler, auch für Mathematiker. Nur dass diese am Ende unter eine kurze Formel eine Zahl schreiben, die die genaue Wahrscheinlichkeit angibt, tatsächlich zu gewinnen. Klein genug, um zu reizen.

Aber aus mathematischer Sicht ist das dennoch nur Kinderkram. Man bewegt sich in diskreten Räumen. Die Spielanordnung ändert sich nicht, nicht die Zahl der Felder und auch nicht ihre Farbe. Aber was passiert, wenn ich das geregelte Feld verlasse? Offene, nicht mehr abzählbare Räume betrete? – In der Mathematik ist das der Schritt aus der diskreten in die allgemeine Wahrscheinlichkeitstheorie. Wo sich das Spielfeld auf einmal verändern kann – Ereignisse hängen nicht mehr direkt voneinander ab, Verteilungen und Dichte können sich ändern.

Auf einmal hat man nicht mehr – wie beim Würfelspiel – am Ende einer (sehr) langen Reihe von Experimenten eine Gleichverteilung der Ergebnisse, sondern eine Verteilung, die in der Grafik wie ein Misthaufen aussieht. Die berühmteste dieser Grafiken ist die Gaußsche Verteilungskurve: der höchste Buckel ist ordentlich in der Mitte und nach beiden Seiten flacht der Haufen schön gleichmäßig ab.

Die Ereignisse in der Mitte, im Buckel, sind also deutlich häufiger als die zu den Rändern hin. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie eintreten, ist höher. Aber das kann man nicht mehr mit einem einzelnen Zahlenwert angeben. Die Mathematiker bekommen eine Normalverteilung – wenn man denn eine Gaußsche Kurve bekommt. Die meisten Eigenschaften einer menschlichen Gesellschaft oder einer menschlichen Wirtschaft lassen sich mit Gaußschen Kurven zeichnen. (Und zumindest die Statistiker wissen, dass Gesellschaften aus dem Lot geraten, wenn sie beginnen, von der Normalverteilung deutlich abzuweichen – man denke nur an die Normalverteilung der Einkommen).

Aber auch auf dieser Stufe bleiben Freudenberg und Gäbler nicht. Die angehenden Mathematiker sollen ja was lernen. Übungsbeispiele stecken haufenweise im Text. Jedes Kapitel ist mit einem dieser coolen Sprüche überschrieben, mit denen Mathematiker die Welt gern in Verwirrung bringen. Ein gewisser Albert Einstein zum Beispiel, den die beiden im dritten Kapitel zitieren: “Mach dir keine Sorgen wegen deiner Schwierigkeiten mit der Mathematik. Ich kann dir versichern, dass meine noch größer sind.”Als hätte er einen ganz bestimmten deutschen Wirtschaftsweisen gemeint. Im Kapitel drei geht es schon um zufällige Größen. Da ist dann Vektorenrechnen gefragt, denn wenn man nicht alle Fakten für sein Experiment beisammen hat (und real existierende Wirtschaft ist genau so ein Experiment), dann kann man bestenfalls berechnen, in welchem Spektrum die möglichen Ergebnisse einer zufällig ausgewählten Entwicklung am Ende landen. Und Fakt ist: Wenn man das fürs Roulette berechnet, kommen noch sehr konkrete Werte heraus, auch wenn es selbst hier schon nur Annäherungen sind und sein können: Man kann das eintretende Ereignis nicht punktgenau vorhersagen, aber sich dem doch mathematisch sehr annähern. Man kann auch Intervalle ausrechnen, innerhalb derer Ergebnisse als erwartbar gelten können.

Ein hübsches Beispiel ist hier mal der Fibrinspiegel bei Sportlern. Und da wird es spannend: Was ist mit den Sportlern los, deren Fibrinspiegel nicht im Intervall liegt?

In Kapitel 4 geht’s dann um Zufällige Vektoren, im fünften um Grenzwertsätze. Für jeden, der mal wieder ein paar sportliche Herausforderungen für seinen Kopf sucht, ganz bestimmt ein Angebot. Am Ende sieht man zumindest, mit welchen fein geschliffenen Instrumenten Mathematiker heutzutage Wahrscheinlichkeiten, Varianzen und Intervalle ausrechnen können. Und man fragt sich natürlich: Warum taucht das in den mit Zahlen gespickten “Prognosen” der meisten Wirtschaftsinstitute so nie auf? Oder doch sehr, sehr selten. Meist wird dann nur die schönste Zahl herausgegriffen, politisch ausgeschlachtet und verkauft, als könne man künftig eintretende Ereignisse so genau ausrechnen.

Kann man aber nicht. Schon bei der Begrenzung auf drei, vier Variablen bekommt man Intervalle, die ein Feuerwerk von Spekulationen ermöglichen. Und das Schlimmste an der so von Voraussagen besessenen Wirtschaftstheorie ist: Sie überprüft ihre Ergebnisse nicht.

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EAGLE-Starthilfe Wahrscheinlichkeitsrechnung
Wolfgang Freudenberg, Markus Gäbler, Edition am Gutenbergplatz Leipzig 2014, 14,50 Euro

Und wenn es einer tut, ist es meistens ein Außenseiter, den schon mal interessiert, warum das vor zehn Jahren postulierte Ergebnis nicht eingetreten ist. Etwa all die hübschen Verheißungen der “Trickle-down-Theorie”.

Immerhin dürften einige der jüngeren deutschen Wirtschaftsmathematiker bei Prof. Freudenberg in der Vorlesung gesessen haben. Und vielleicht taucht ihr mathematischer Geist ja auch mal auf in den diversen Instituten, die sich so zahlenversessen geben und die doch immer eins für sich behalten: Wie unwahrscheinlich es tatsächlich ist, dass ihre Prognosen eintreten. Und wie wahrscheinlich, dass es ganz anders kommt.

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