Mit seinen Interviews aus der Leipziger Kulturwelt - jetzt hätte ich doch beinah "Szene" geschrieben - gehört Volly Tanner zu den beliebten Autoren der L-IZ. "Urgestein der Leipziger Literaturszene" nennt ihn der Gmeiner Verlag, der jetzt eine Tannersche Co-Produktion vorgelegt hat: Mit Lene Hoffmann zusammen hat er 35 Leipzigerinnen und Leipziger porträtiert. Ein echtes Leipziger Buch, auch wenn es bei Gmeiner als Serie erscheint.

Denn parallel erscheinen solche “Stadtgespräche” auch aus München, Hamburg und Frankfurt am Main. Nicht zufällig. Denn beim Gmeiner Verlag hat man augenscheinlich etwas früher als anderswo begriffen, dass man das, was derzeit in den großen deutschen Metropolen abgeht, mit dem Begriff “Szene” völlig falsch beschreiben würde. So gefühlt vor 25 Jahren war das mal ein Arbeitsbegriff, mit dem man ganz vorsichtig erfasste, dass es jenseits von Hoch- und Küchenkultur, Sub- und Unterhaltungskultur auch noch eine Welt widerspenstiger, meist junger Leute gab, die nicht gewillt waren, sich einzupassen oder gar um staatliche Alimentierung zu betteln. Noch ein paar Jahre zuvor nannte man so etwas Untergrund. Ein Wort, in dem die Faszination des Beschreibers am Unfassbaren genauso mitklingt wie die Angst der Verwalter vor dem Ungenehmigten.

In den letzten Jahren ist das Wort Szene regelrecht zu billigem Kleingeld geworden, zu einem running gag des Marketings. So abgenutzt, dass es tatsächlich das, was vielleicht gemeint ist, abwertet bis zur Beliebigkeit.

Volly Tanner hat mit seinen vielen Interviews mittlerweile recht plastisch gezeigt, dass es tatsächlich um etwas anderes geht und die Akteure alles andere sind und sein wollen als ein wildes Element aus dem Sumpf. Tatsächlich sind all die jungen und nicht mehr ganz so jungen Menschen, die er vorstellt, das kreative Myzel der (Kultur-)Stadt Leipzig. Sie machen das, was Politiker gern so selbstgefällig erwarten – und so ungnädig schlecht honorieren: Sie setzen ihre Ideen in Projekte und Geschäftsfelder um. Sie gründen Verlage und Läden mit neuen Ideen, besiedeln (und besiedelten) heruntergekommene Straßen und Viertel mit verrückten Café- und Wohnprojekten. Sie gründen Netzwerke, um Visionen zu verwirklichen oder bleiben einfach in ihrem Ortsteil aktiv, selbst wenn sie etwas gesetzter und rauschebärtiger werden.

Und der Leser darf nicht nur beim Lesen der L-IZ staunen.

Er darf es auch beim Blättern in diesem Buch tun, das der Verlag eben nicht unter “Szene” verkauft, sondern als Stadtgespräche anbietet – eine Stadt zum Kennenlernen über die Menschen, die tatsächlich jeden Tag Leben in die Bude bringen, aber selten bis nie in den Promi-Spalten von Gazetten und Magazinen auftauchen würden. Ausnahmen bestätigen die Regel. Gäbe es solche Typen wie Sebastian Krumbiegel, Heike Fischer oder Küf Kaufmann nicht, es würde selbst den Lesern der großen Zeitung auffallen, dass sie eigentlich fast nur von einer Promi-Welt berichtet, die mit dem eigentlichen Treiben und Jungsein dieser Stadt nichts zu tun hat.

Durch seine emsige Netzwerkarbeit im Leipziger Westen kennt Volly Tanner jede Menge dieser Leute, die seit 1990 (und zuweilen auch schon lange davor) arbeiten im Wurzelwerk der Stadtgesellschaft, die einfach loslegen, wenn eine Idee sie begeistert (oder auch mal zwei oder zehn Ideen), und die wieder aufstehen, wenn sie wieder mal voll auf die Schnauze gefallen sind. Sie leben das, was in Beraterprospekten meist in goldigen Tönen angepriesen wird: Gründer- und Unternehmergeist. Und sie wissen, dass sie dafür rackern müssen und mit Belohnungen nicht zu rechnen haben. Schon gar nicht aus der reich gewordenen Schickeria der Stadt, die sich dann ausbreitet, wenn ihr Pioniergeist ganze Stadtquartiere wieder zum Leben erweckt hat.

Manche der Porträtierten gehören mittlerweile tatsächlich zum Urgestein des heutigen Leipzig.

Und damit sind keine eingekauften Kapellmeister oder Moderatorengesichter gemeint. Messegeschäftsführer Martin Buhl-Wagner wirkt fast wie ein Fremdkörper in dieser Auswahl – gehört aber trotzdem hinein, weil er (unter Leipzigs Top-Managern eine echte Ausnahme) tatsächlich ein Leipziger Eigengewächs ist. Auch wenn er längst in einer anderen Welt agiert als Gabi Edler (die den Straßenkinder e.V. auf die Beine gebracht hat), Comic-Genie Schwarwel oder Poetenladen-Gründer Andreas Heidtmann, der gerade weil er zum Verwirklichen seiner Idee nach Leipzig kam, ein waschechter Leipziger ist. Denn diese Stadt lebt vom Wandern, vom Wechsel und vom (heimlichen) Ruf, ein guter Ort zum Experimentieren, Kontakteknüpfen und Durchhalten zu sein.

Und wenn heuer über die Immobilien- und Wohnungsmarktpolitik der Stadt endlich diskutiert wird, dann hat das damit zu tun, dass die Grundlage dieses Ausprobierens die (noch) vorhandenen Freiräume sind. Wenn die Freiräume verschwinden, wird eine Stadt bräsig. Ganz automatisch. Dann geht der bezahlbare Raum für neue Bandgründungen verloren, für bezahlbare Ateliers, für verrückte Clubs, Läden und Café. Da unten, in dieser ins “sub-” abgedrängten Szenerie, wird nicht über Mindestlohn debattiert, sondern  darüber, ob die Idee reicht, den Laden am Laufen zu halten, ob die Miete drin ist und der Vermieter mitspielt.

Manche der 35 Vorgestellten haben es natürlich geschafft.

Oft einfach mit dem Mut, sich von der staatlichen Gängelei einfach abzunabeln, egal, ob die Idee zum Reichwerden taugt oder nicht – wie Marie-Luise Görtz, die sich im Westwerk durchboxt, Mia Lippold, die im Osten für eine Kulturfabrik ackert, oder Hans Kohlmann, der Schleußig um seine Krimibuchhandlung bereichert hat. Auch die Fäden in frühere Entwicklungsgeschichten der Leipziger Stadtgesellschaft machen Lene Hoffmann und Volly Tanner sichtbar – etwa wenn sie WGT-Urgestein Peter Matzke porträtieren, der jetzt für die Stadt die großen Jubiläen organisiert, oder Gesa Pankonin, die Leipzig einmal mit der “Zaunreiterin” aufmischte und seitdem gefühlte zehn Mal eine neue Rolle für sich selber fand. Gerade solche Geschichten machen deutlich, wie sehr die eigentliche Seele Leipzigs von der Unruhe und der Lust auf Veränderung lebt.

Dafür stehen exemplarisch auch ein paar ganz alte Leipziger, die die beiden Autoren aus dem Mus der Geschichte gefischt haben, um sie ganz locker einzureihen ins heutige Stadtgespräch, weil sie noch immer in aller Munde sind. Trotz alledem, um gleich mal Karl Liebknecht zu nennen, der mit seiner Verweigerung des Burgfriedens im 1. Weltkrieg den meisten Leipzigern bis heute aus der Seele spricht, Robert Schumann, Dr. Schreber oder Lene Voigt, die bis heute beliebte Mundartdichterin, der nur leider die Zuhörer abhanden kommen, denn kaum ein Leipziger spricht noch dieses Sächsisch. Was dann – gleich in Geschichte Nr. 1 – der Sprachprofessor Beat Siebenhaar erklären kann, der die Leipziger Gemeinde mit der These erschreckte, das sächsische Idiom sei ein ausgestorbenes. Womit er Recht hat. Wofür er aber nichts kann, denn es sind die Sachsen selbst, die sich schon seit Lenes Zeit emsig bemühen, ihren Dialekt abzulegen und konsequent Hochdeutsch zu reden. Auch daheim, wo andere Völkerschaften fröhlich ihre Mundart pflegen.

Aber es gehört dazu. Auch zum Flair dieser Stadtgesellschaft, die außerhalb der üblichen Bälle und Premieren so lebendig ist, wie sie auch vor 25 Jahren war – experimentierfreudig, berauscht von Ideen, die oft verrückt genug sind, um wirklich zu begeistern. Wer ein wenig verstehen will, wie das jung gebliebene Leipzig tatsächlich tickt, findet hier einen farbenfreudigen Einstieg in 35 Kapiteln.

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