Noch ein Buch zur Friedlichen Revolution? Warum nicht? Der Stoff gibt es her. Erst recht, wenn man ihn aus einer anderen Perspektive betrachtet - weg vom Wunder und von der nachtrรคglich inszenierten รœberraschung, als wรคre der Herbst 1989 geradezu aus dem Nichts gesprudelt, als wรคre da - um mal Helmut Kohl zu zitieren - "plรถtzlich der heilige Geist รผber die Plรคtze in Leipzig gekommen und hat die Welt verรคndert". Rainer Eckert kennt die Fakten.

Zumindest was den letzten Teil seiner Geschichte betrifft, auch wenn er den Bogen ganz weit spannt. Nicht nur bis ins 19. Jahrhundert, wie es auf dem Titel steht, sondern bis ins 13. Jahrhundert. Aber das kann โ€“ in diesem Zusammenhang โ€“ nur ein kurzer Ausflug sein. Allein die Erzรคhlung all der Ereignisse, Strรถmungen und Bewegungen, die im 19. Jahrhundert vom widerstรคndigen Verhalten der Leipziger berichten, wรผrde mehr als einen dicken Band fรผllen. Das reicht von den frรผhen Burschenschaften รผber den Vormรคrz, das Junge Deutschland und die Rolle Robert Blums weiter bis zur Grรผndung von Arbeiter- und Frauenvereinen, den Auftritten von August Bebel und Wilhelm Liebknecht bis hin zu legendรคren โ€œVerbrechertischโ€ und seinen Stammgรคsten. Tatsรคchlich harren noch etliche Kapitel der frรผhen demokratischen, liberalen und linken Bewegungen im Leipzig des 19. Jahrhunderts der Aufarbeitung.

Und dasselbe gilt fรผr die erste Hรคlfte des 20. Jahrhunderts, zu der erst in den letzten Jahren einige Arbeiten erschienen, die sich etwa mit den revolutionรคren Tagen von November 1918 bis zum Frรผhjahr 1920 oder mit den โ€œLeipziger  Meutenโ€ in der NS-Zeit beschรคftigten.

Wichtig aber fรผr das, was Rainer Eckert hier vorlegt, ist die Kenntnis der eigentlichen Vorgeschichte der Friedlichen Revolution. Und dazu gehรถrt nun einmal die komplette Zeit der sowjetischen Besatzung ab 1945 und der DDR. Dazu gehรถren die mutigen Auftritte der Studenten (Natonek, Belter usw.), das Vorgehen gegen kritische Professoren wie Mayer und Bloch, dazu gehรถren die Demonstrationen und Streiks rund um den 17. Juni 1953, gehรถrt die Beat-Demo von 1965 genauso wie der Protest gegen die Sprengung der Uni-Kirche 1968. Alles Themen, die natรผrlich zum direkten Arbeitsfeld von Rainer Eckert als Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig gehรถren.

Er reichert den Stoff, der glรผcklicherweise in den letzten Jahren schon mit einigen Einzelpublikation verdichtet wurde, noch an, zeigt auch die vielen Versuche Leipziger Studenten, Bรผrger und Kรผnstler, zwischen diesen prรคgnanten Jahren die Spielrรคume fรผr Meinungsfreiheit und Gewissensfreiheit einzufordern und auszutesten. Die Zugriffe der Staatsmacht sind Legion โ€“ sei es das rabiate Vorgehen gegen Erich Loest und Ralf Schrรถder oder das Verbot des Studentenkabaretts โ€œRat der Spรถtterโ€ oder die Verfolgung jener Autoren, die sich an der legendรคren Motorbootlesung 1968 auf dem Elsterstausee beteiligt hatten.

Und das hรถrte nach 1968 nicht auf โ€“ man denke nur an das Auftrittsverbot fรผr die Gruppe Renft. Nur wenn man das Bild so langsam anreichert und sieht, mit welch vielfรคltigen Formen gerade in Leipzig versucht wurde, dem erstarrten Dogma der Partei einen lebendigen, farbigen, freieren Gesellschaftsentwurf entgegenzusetzen, wird deutlich, dass es ab den 1980er Jahren nur noch darum ging, welche Form der Protest annehmen wรผrde. Nicht darum, ob die Sanktionspolitik der Staatsgewalt diesen immerfort nach freierem Denken und Sagen suchenden Geist je kleinducken kรถnnte. Das ist nie gelungen. Im Gegenteil. Je feinmaschiger das Netz aus รœberwachung und Gรคngelung wurde, um so phantasievoller wurden die Formen, mit denen Leipzigs freiheitssuchende Geister ihren Widerspruch artikulierten.

Und das ist das Wichtige an diesem Buch: dass Rainer Eckert zumindest in vielen kurzen Anrissen zeigt, welch eine Vielfalt das Protestpotenzial in Leipzig ab den 1970er Jahren entwickelte. Da gehรถren die Kรผnstler dazu, die etwa mit dem โ€œHerbstsalonโ€ ihre kritische Kunstsicht รถffentlich machten, genauso wie die unabhรคngigen Galerien (wie โ€œEigen + Artโ€), die dem Staat das Kunstmonopol streitig machten, eine unabhรคngige Literatur- und Musiklandschaft, ein halbes Dutzend von Samisdat-Zeitschriften, aber auch die entstehenden Szenen der Grufties, Punks und Skinheads.

Die Frage war eher: Wie wird das alles zum gesellschaftlichen Diskurs? Lรคsst diese alleinseligmachende Partei รผberhaupt noch mit sich reden? Oder kann man sie dazu zwingen?

Denn auch in dieser Spรคtzeit der DDR setzte die SED ohne jedes Nachdenken auf Repression und Sanktion. Was รผbrigens wohl einer der Hauptgrรผnde fรผr den massiven Ausbau des MfS war: Jede neue unangepasste Gruppierung brauchte neue Aufpasser. Denn die Verรคnderungen in Gesellschaft und Kultur registrierte der Parteiapparat nicht als Bereicherung, sondern immer nur aus der Perspektive der Untergrabung der Staatsgewalt oder der โ€œsozialistischen Gesellschaftโ€. Wer nicht kommuniziert, igelt sich ein und ist am Ende nur noch von Angst getrieben, ohne zu wissen, woher das kommt.

Dass am Ende die Kirche zum Schutz- und Aktionsraum des Protestes wurde, hat eher wenig mit  Glauben und Religion zu tun, eher mit der Tatsache, dass es auรŸerhalb der Kirchen keine solchen Schutzrรคume mehr gab. Und der eigentliche Schulterschluss passierte in den frรผhen 1980er Jahren, als in Ost und West gegen die Stationierung der Kurzstreckenraketen protestiert wurde. In der DDR eigentlich ein Kernthema der gelernten Ideologie: Dieses Land predigte den Frieden, lieรŸ seine Pioniere das  Lied von der kleinen, weiรŸen Friedenstaube singen. Die jungen Bรผrger des Landes, die da 1980 das mulmige Gefรผhl hatten, dass mit der Stationierung der Kurzstreckenraketen die Gefahr des Atomkrieges wuchs, hรคtten in der Staatsmacht eigentlich einen Verbรผndeten finden mรผssen. Fanden sie aber nicht. Und fanden sich auf einmal โ€“ eigentlich typisch fรผr die Dissidenz in der DDR โ€“ mit einer Haltung, die sie gelernt hatten, in der Oppositionsrolle. Dafรผr Seit an Seit mit der Evangelischen Kirche, die auf ihre Weise den Frieden zu ihrem Thema machte โ€“ in Friedensdekaden, Friedensgebeten oder im Kampf fรผr einen Sozialdienst als Ersatz fรผr den allgemeinen Wehrdienst.

Eckert schildert recht akribisch, wie der zivile Protest und der Schutzraum Kirche ab den frรผhen 1980er Jahren zusammenkamen, wie sich die Friedensgebete zum Artikulationsraum all dessen entwickelten, was in der ร–ffentlichkeit der DDR nicht diskutiert und benannt werden durfte. Er lรคsst auch die Phasen der Resignation und des Streits nicht aus. Denn als die Friedensgebete in der Nikolaikirche Ende der 1980er vor allem durch Ausreisewillige immer mehr Zulauf bekamen, erhรถhten Staat und Staatspartei den Druck auf die Kirche, diesem Stรผck Meinungsfreiheit ein Ende zu setzen. Im Grunde ein staatlicher Narrenstreich, denn zum Hรถhepunkt dieses Streits, bei dem es auch Akteure wie Christian Fรผhrer und Friedrich Magirius hin und her riss, suchten die zur Sprachlosigkeit verdammten Aktionsgruppen ihre Zuflucht im Weg auf die StraรŸe. Rainer Eckert hรคlt das fรผr einen ganz wesentlichen Moment im Heranreifen der Friedlichen Revolution, denn jetzt probierten jene Aktiven, die zuvor schon den konstruktiven Dialog im Schutzraum Kirche trainiert hatten, auch die Mรถglichkeiten des offenen Raumes aus โ€“ und damit gingen auch ihre Botschaften an die ร–ffentlichkeit.

Die Staatsmacht griff zwar immer wieder zu, doch sie konnte die Versuche, StraรŸe und und Plรคtze zu erobern, nicht mehr eindรคmmen. Vor allem auch, weil dabei immer wieder neue, gewaltlose Formen des Protests ausprobiert wurden. Von ersten Kerzenmรคrschen berichtet Eckert sogar schon aus dem Jahr 1983. Noch 1988 waren die Gruppen, die sich zu kleinen Mรคrschen durch Leipzigs Innenstadt aufmachten, recht รผberschaubar. Doch gerade der hilflose Umgang der Staatsmacht mit dem Thema Ausreise brachte immer mehr Zuhรถrer in die Friedensgebete, รถffnete neue Streitfronten, die die Leipziger Parteifunktionรคre glaubten, ausnutzen zu kรถnnen. Doch am Ende kam es in der Nikolaikirche zu einem Miteinander, das sich am Ende als fruchtbar erweisen sollte โ€“ die Mitglieder jener Initiativgruppen, die das Land und seine heillosen Zustรคnde รคndern wollten, arbeiteten gemeinsam mit den Ausreisewilligen. Am Ende waren auf Leipzigs StraรŸen beide Chรถre zu hรถren: โ€œWir wollen raus.โ€ und โ€œWir bleiben hier.โ€

Eckert macht die Vielzahl von Akteuren sichtbar, die sich in den am Ende 25 verschiedenen Initiativgruppen rund um die Friedensgebete einbrachten, die brennenden, ungelรถsten Probleme des Landes diskutierten und ab 1988 in immer mutigeren Aktionen auf die StraรŸe trugen. Er lรคsst natรผrlich die wichtigen Meilensteine nicht weg, die die Entwicklung vor dem Herbst 1989 prรคgten โ€“ die PleiรŸe-Gedenkmรคrsche, den Luxemburg-Liebknecht-Gedenkmarsch, den Statt-Kirchentag und die Aktion auf dem Evangelischen Kirchentag im Juli, gefolgt vom StraรŸenmusikfest. Nur der Sommer 1989 war eine Art Atempause, die schon mit dem ersten Montagsgebet und der anschlieรŸenden Demonstration im September beendet war. Jetzt verstรคrkte zwar die Staatsmacht ihre Einsรคtze โ€“ probte auch erstmals die Einkesselung der Nikolaikirche mit Polizeikrรคften. Eckert zitiert immer wieder mit Genuss aus den Protokollen, Analysen und Befehlen der Mรคchtigen, die die Entwicklung noch immer im alten Jargon beschreiben: Die Rรคdelsfรผhrer vermutete man im Westen, gar bei den Westmedien, die รผber die Ereignisse berichteten. Noch immer glaubte man, รผber die Kirchenfรผhrung Druck ausรผben zu kรถnnen.

Aber gerade diese intensive Beschreibung der Wechselspiele zwischen den Ereignissen in der Kirche, auf den StraรŸen, in den Machtzentralen und den Dienstzimmern der Funktionรคre, wo sie die Kirchenverantwortlichen dazu bringen wollten, ihre Anweisungen schleunigst umzusetzen, zeigen auch, warum die Sache im September/Oktober 1989 hochkochen musste. Man kann einem Volk nicht einfach den Mund verbieten und dann, wenn die Forderungen nach Dialog und Diskussion immer lauter werden, versuchen, auch noch die letzten Rรคume zum freien Austausch zu verschlieรŸen. Denn dann steht nur noch eine Frage: Wohin mit dem รผberschรคumenden Protest? โ€“ Dann bleibt nur noch die StraรŸe. Und der massive Zustrom zu den Demonstrationen ab Ende September 1989 zeigt, wie groรŸ der Unmut der Bevรถlkerung รผber die Gesprรคchsverweigerung der Funktionรคre schon war.

Die Entwicklung im Jahr 1989 und die Verdichtung der Ereignisse im Herbst dieses Jahres nehmen natรผrlich den Hauptteil des Buches von Rainer Eckert ein. Hier liegen mittlerweile auch die meisten Forschungsergebnisse vor, die beschreiben, wie aus einem seit Jahren offenkundigen Dissenz am Ende eine Bewegung wurde, die die noch Mรคchtigen vรถllig รผberforderte. Als sie dann den Dialog wagten, war es zu spรคt. Da waren die Akteure auf den StraรŸen auch mit ihren Forderungen lรคngst viel weiter.

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