Mit diesem Buch voller Rezepte und Geschichten kehrt Harald Saul zu seinen Anfängen zurück. Nicht zu denen als Kochlehrling und Küchenmeister (auch wenn er aus der damaligen gern ab und zu was ausplaudert), sondern zu denen dieser Buchserie im Buchverlag für die Frau. Denn mit Gera und Schloss Osterstein fing 1997 und 1998 alles an.
Damals war Harald Saul noch am Austesten, was mit dem Format eigentlich möglich ist. Schon seit Jahren, eigentlich Jahrzehnten, sammelt er Familienrezepte aus allerlei mitteldeutschen Regionen und Küchen. Und nicht nur die: Er lässt sich von seinen Kontaktpartnern auch die Geschichten dazu erzählen, denn meist haben die Rezepte, Rezept- und Kochbücher in Familiennachlässen überdauert, gingen mit auf Wanderschaft, wenn geheiratet wurde oder der Krieg zur Aufgabe der alten Heimat zwang. Oft stammen sie von den Groß- oder Urgroßeltern oder ähnlich fernen Verwandten der Familie, deren Schätze an Rezepten, Tagebüchern, Fotos dennoch aufbewahrt wurden und die Personen auch heute noch erleben lassen in ihre Welt, ihrer Arbeit, ihrer Zeit. Oft gehören sie – wie kleine Küchenheilige – zum Schatz der Familie. Oft leider droht aber auch das Vergessen, weil die Schatzbewahrer selbst in die Tage gekommen sind und die einst großen Familien in alle Winde verstreut.
Wem vermacht man dann die Erinnerungsstücke aus dem alten Lederkoffer auf dem Speicher?
In der Regel wandert das alles irgendwann auf den Sperrmüll. Insofern hat Harald Saul die Aufgabe eines Alltagshistorikers und -archivars übernommen. Er sammelt das alles. Und immer wenn er mit seinen Büchern auf Lesetour ist, knüpfen sich neue Kontakte, melden sich Menschen selbst aus entfernten Städten und Regionen, die in ihren Schränken und Truhen Erinnerungen an ferne Vorfahren bewahrt haben. Buch für Buch macht Saul so eine vergangene Welt lebendig. 1997 widmete er sein erstes Buch Schloss Osterstein, der einstigen Residenz der Fürsten Reuß jüngere Linie. Das Buch veröffentlichte er erst einmal im Eigenverlag, genauso wie 1998 “Das Geraer Stadtkochbuch”.
Beide Titel waren recht schnell vergriffen. Saul hatte einen Nerv seiner Landsleute getroffen. Denn Regionalkochbücher gibt es ja wie Sand am Meer. Die meisten widmen sich gleich regionalen Großlandschaften, Thüringen zum Beispiel oder Sachsen. Aber der kochlustige Leser merkt schnell, dass diese Dimension im Prinzip viel zu weit gefasst ist (noch schlimmer sind Kochbücher mit “Deutscher Küche”). Selbst innerhalb dieser Großlandschaften wechselt die Eigenart der Küche oft schon, wen man Kreisgrenzen überschreitet. Das hat nicht immer mit der Winzigkeit der einstigen Fürstentümer zu tun – eben wie der diversen Reußschen Lande, aber sehr viel mit der lokalen, gern auch regionalen Landwirtschaft (und damit auch mit den für den Normalsterblichen bezahlbaren Küchenprodukten), der lokalen Wirtschaft, natürlich auch der Präsenz reicher Fürstenhöfe, starke, vom Bürgertum geprägter Städte oder einer frühen Entwicklung als Urlaubs- und Kurort. Denn auch wenn viele Küchentraditionen bis ins 17., 18. Jahrhundert zurückreichen, waren es kreative Köche, Küchenfrauen, Bäcker, Konditoren und Gastwirte, die der lokalen Küche dann auch noch ihren individuellen Stil aufprägten. Ergebnis sind tausende von Rezepten, die all das sichtbar machen und mit denen Harald Saul dann seine Bücher bestückt, deren Rahmen natürlich die Geschichten aus den alten Familienarchiven sind. In diesem Band nun hat er seine beiden ersten Bücher zusammengefasst. Wer sie besitzt, wird Vieles wiedererkennen. Aber große Teile hat Saul auch überarbeitet und um neue Geschichten ergänzt. Und von einigen seiner Wegbegleiter musste er sich in dieser Zeit auch verabschieden. Auch das etwas, das zeigt, wie wichtig seine Arbeit ist – und wie kurz das menschliche Leben. Da sind es dann nur noch die Alten, die sich erinnern.
Aber wer bewahrt das auf?
Jede Region hat ihr Gedächtnis. Längst geschlossene Kneipen, längst gestorbene Originale sind noch präsent. Und der Absatz der Bücher zeigt eigentlich, wie groß das Bedürfnis ist, derlei wieder zu lesen und auch wieder zum Teil der eigenen Küchenwelt zu machen.
Auffällig ist, wie fleischreich die Geraer Küche ist. Natürlich liegt das an der Lage und der Präsenz von Wild und Wald. Bodenständig ist diese Küche auch. Gera galt zwar mal als ein Tummelplatz der Kneipen und Restaurants. Aber manches Gericht erinnert auch daran, dass die Köche und Köchinnen sich in kargen Zeiten auch mal was einfallen lassen mussten. Und wie das so ist – man kennt das ja aus Sachsen – gerade diese “Arme-Leute-Rezepte” sind in vielen Familien zu den beliebtesten Klassikern geworden.
Aus der Geraer Küche begegnen einem dann zum Beispiel “Röhrendetscher nach Geraer Art”, “Geraer Hausmachersülze” oder die “Einfache Geraer Biersuppe”. Gera war auch mal eine richtige Bierstadt und unter der Stadt gibt es noch heute die damals zur Bierlagerung in den Untergrund getriebenen Stollen. Und nach der “Einfachen Biersuppe” geht’s logischerweise erst richtig los mit Geraer Bierrezepten. Ein richtiger kleine Höhepunkt sind die Menü-Listen von Zeppelinkoch Herrmann S., die natürlich ins Buch gefunden haben, weil der Koch aus Gera kam. Aber wer käme überhaupt auf den Gedanken sich mit der Bordverpflegung eines Zeppelins zu beschäftigen?
Und wie kommt jüdische Küche ins Buch?
Natürlich durch die Erinnerungen einer Frau, die einst in einem jüdischen Haushalt die Küche betreute. Selbst die Sache mit dem vegetarischen Essen ist so neu nicht. Dr. E. aus Gera beschäftigte sich schon vor 100 Jahren damit – damals noch unter den Aspekt der gesundheitsfördernden Ernährung. Und spätestens mit “Geheimrat” Linus Speck kommt man in den Dunstkreis des Reußschen Hofes auf Schloss Osterstein. Auch wenn sich noch ein Ausflug zum Interhotel Gera (längst verschwunden) und zur Kuchenfrau aus Aga dazwischen schieben. Aber dann gibt’s ein dickes Kapitel zu den Reußen, ihrem Schloss auf dem Hainberg, den Hoffesten der diversen Heinriche bis zu Heinrich XLV., der dann zwar kein Fürst mehr wurde, sich dafür um das Theaterleben in Gera kümmerte und 1945 dann – unter sowjetischer Besatzung – in Buchenwald ums Leben kam. Das Kulinarische von Schloss Osterstein kommt dann mit Heinrich Höntsch, dem Schlosskoch, ins Buch. Hier wird’s dann schon recht experimentell und fürstlich.
Kein Wunder also, das sich die Geraer in den beiden ersten Büchern wiederfanden. Ob sie auch fleißig nachgekocht haben, ist nicht überliefert. Aber zumindest kann man sich die Rezepte ja mit diesem Buch besorgen und hinstellen für die Zeit, wenn man mal wieder was ausprobieren möchte.
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