Eifrige Krimi-Leser kennen Ethel Scheffler schon als eine der emsigen Leipziger Krimi-Autorinnen. Ihre Geschichten veröffentlichte sie unter anderem in Anthologien des Mitteldeutschen, des Gmeiner und des Sutton Verlags. Mitglied in der Vereinigung "Mörderische Schwestern" ist sie sowieso. Nun hat sie sich in einem ganzen Buch ihrer Heimatstadt gewidmet, noch genauer: ihrem geliebten Großzschocher, das sehr idyllisch sein kann, wenn man nicht weiß, was passiert ist.
Im Titel prangen die mörderischen Totengräber, die im 16. Jahrhundert tatsächlich ihr Unwesen trieben in Schleußig, Klein- und Großzschocher. Darüber hat der Pfarrer in Großzschocher, Heinrich Engelbert Schwarz, 1744 in seiner zumindest im Leipziger Südwesten mittlerweile berühmten Chronik berichtet. Diese wahre Geschichte hat Ethel Scheffler im zweiten Teil ihres Buches untergebracht, in dem sie chronologisch einige der spektakulärsten Kriminalfälle aus Großzschocher nacherzählt. Beginnend mit der “Verhängnisvollen Liebe” des Ritters Moritz von Pflugk aus dem berühmten Rittergeschlecht derer von Pflugk, die seit 1349 das Rittergut Großzschocher besaßen. Doch die üblichen Mittelalterkamellen erzählen immer nur vom edlen Minnen und Turnieren der Ritter – dass diese in erster Linie aber Gutsverwalter waren und eine Ahnung von einem gut organisierten Landwirtschaftsbetrieb haben mussten, wird meist weggelassen. Normalerweise ist der Boden um Großzschocher so reich, dass hier ein ordentlich bewirtschaftetes Gut nicht pleite gehen kann. Moritz schaffte es trotzdem. Und nicht nur mit der Wirtschaft hatte er kein Glück, auch mit den Frauen nicht – seine ungetreue Ehefrau musste er zu ihren Verwandten zurückschicken und in Leipzig, wo er dann versuchte über die Runden zu kommen, verliebte er sich in die Ehefrau eines anderen – und verstrickte sich mit ihr in ein Komplott, das beide letztlich auf den Leipziger Markt zur Richtstätte führte. Eine Geschichte aus dem Jahr 1537 in einer Reihe, die Ethel Scheffler fortsetzt bis hin zu Aufsehen erregenden Vorfällen der jüngeren Zeit – wie einem blutigen Vorfall in der Weihnachtszeit 2009, bei dem es zu zwei Schwerverletzten kam und dem Selbstmord des Täters später in der Haft.
Die Dramen passieren mitten unter uns. Und Ethel Scheffler ist bis heute verblüfft, wie wenig man davon ahnt. Eine Geschichte ist ihr sogar fast hautnah begegnet. Sie gehört bis heute zu den Legenden, die sich die Zschocherschen immer wieder erzählen, gerade weil das Opfer ein neunjähriges Mädchen war. Aber auch, weil die Zeitungen der damaligen DDR-Zeit darüber nicht wirklich ausführlich berichteten, schon gar nicht über die Aufklärung des Falles sechs Jahre nach der Tat.
Ethel Scheffler demonstriert hier, wie man so einer Geschichte zu Leibe rücken kann, wenn man sich in Geduld übt und nach den verfügbaren Quellen sucht. In diesem Fall half ihr die immense Sammelwut des MfS, das auch zum Täter in dieser Geschichte einen dicken Band angelegt hat, in dem auch die polizeilichen Ermittlungen dokumentiert sind. Der Grund hat mit den Befugnissen der Stasi zu tun, die bis weit in den normalerweise nur der Polizei vorbehaltenen Bereich galten. Aber auch Teile der Justiz und eigene Haftanstalten gehörten zum Imperium des MfS. In diesem Fall, den Ethel Scheffler erzählt, kommt hinzu, dass die damaligen polizeilichen Mittel keineswegs dem heutigen Stand entsprachen. Von DNA-Tests oder gar computergestützter Erfassung konnte noch keine Rede sein. Jedes Protokoll, jede Anfrage mussten per Hand getippt werden.
Aber die Arbeit war akribisch, wie Ethel Scheffler dann feststellte. Selbst die vielen Hundert verdächtiger Personen, die überprüft werden mussten, wurden von emsigen Polizisten zu Hause besucht. Ein Arbeitsaufwand, der wenig mit dem heute so gern im Krimi geschilderten flotten Ermitteln zu tun hat. Und die damaligen Polizisten werden trotzdem genauso frustriert gewesen sein, als sie auch nach Monaten nicht die Spur einer Spur hatten. Der Mörder des Mädchens, das mit Ethel Scheffler zur gleichen Zeit zur Schule gegangen war, schien unauffindbar. Selbst der zerschlissene Koffer, in dem die Leiche des Kindes in der Kiesgrube in Großzschocher versenkt worden war und der von der Polizei extra in einem Schaufenster ausgestellt wurde, brachte keine Hinweise.
Der Fall wurde zu den Akten gelegt – aber nicht geschlossen. Auch in der DDR blieb man dran, wenn es einen Mörder zu finden galt. 1971, fünf Jahre nach der Tat, wurden die Ermittlungen neu begonnen, begann man noch einmal den Kreis der Verdächtigen zu durchforsten. Und wurde fündig, landete einen Treffer sogar in engster Nachbarschaft der Familie des Kindes. Doch wie sollte man den Mann überführen? Das war der Punkt, an dem das MfS ins Spiel kam: Man brachte zwei Kriminelle, die sich zur Kooperation als IM für das MfS bereiterklärt hatten, mit dem Verdächtigen in denselben Räumen unter und ließ ihn aushorchen. Auch das augenscheinlich ein langwieriges Unterfangen, das dann erst 1974, nachdem noch einmal jedes Puzzle-Stück überprüft worden war, zum Erfolg führte.
Am Ende wird Schefflers Aufarbeitung eine Berührung mit einer Welt, die ja im Grunde ihre Kindheit war. Sie sprach auch noch mit vielen Menschen, die damals jung waren und sich genauso an die Aufregung erinnern konnten, an die Aufrufe in der Zeitung, die aufwändige Arbeit der Polizei, die so gar nicht zum Ergebnis zu führen schien.
Und ganz ähnlich schien sich dann auch ein Mordfall zu entwickeln, der 1998 Großzschocher und Umgebung in helle Aufregung versetze. Auch hier wieder die stille Kiesgrube als Schauplatz, auch wenn der Tote diesmal ein 41jähriger Ingenieur und Familienvater war, der in seinem Blut lag. Auch hier die ersten Wochen der Unsicherheit, bei denen die Öffentlichkeit durchaus den Eindruck bekommen konnte, die Kriminalpolizei fände keine Spur. Auch diesen Fall schildert Ethel Scheffler recht ausführlich, auch mit den zum Teil traumatisierenden Folgen für die indirekt Betroffenen. Die Medien – in diesem Fall zwei überdrehte Fernsehsender – spielten dabei ihre übliche unrühmliche Rolle. Wenn heute so sehr der “Druck er Öffentlichkeit” auf die Ermittler in Kriminalromanen thematisiert wird, dann hat das mit derlei kopflosen Medien zu tun, die von Ermittlungsarbeit zwar keine Ahnung haben, von den konkreten polizeilichen Ermittlungsschritten auch nicht, aber nach Aufklärung und dingfest gemachtem Mörder schreien – und den Verdächtigen dann oft selbst schon mal an den Pranger nageln, denn man weiß es ja besser.
Aber auch in diesem Fall wurde die Polizei fündig und entblätterte eine Geschichte aus emotionalen Verwicklungen, die auch wieder von emotionalen Blindstellen erzählt. Es gibt sie eben doch, diese Mitmenschen, die keine Skrupel kennen und kein Mitleid, bei denen nicht einmal ein Warnlämpchen im Kopf aufleuchtet, wenn sie Grenzen überschreiten. Manchmal auch, weil sie es in ihrer Kindheit nie anders gelernt haben. Auch 2005 wäre es beinah zu einem tragischen Tod eines Kindes gekommen. Diesmal war es der Vater des Kindes, der jegliche Maßstäbe verlor. In diesem Fall war das Leipziger Jugendamt, als es die Warnung bekam, schnell genug und konnte das Leben des Kindes retten – was ja an einen jüngeren Fall in Gohlis erinnert, wo das nicht gelang.
Jeder dieser Fälle erlaubt einen Blick in unsere Wirklichkeit, von der wir meist nur die schöne, friedliche Oberfläche wahrnehmen, ohne auch nur zu ahnen, wieviele Abgründe, Verwundungen und Zerstörungen da existieren im Verborgenen, in “glücklichen Familien” und “friedlichen Häusern”.
Ethel Scheffler macht hier schön kompakt sichtbar, wie viele solcher Geschichten allein in einem idyllischen Ort wie Großzschocher gefunden werden können und zum Teil die Gespräche der Bewohner über Generationen bestimmen. “Leipzig kriminell” hat der Verlag als Label aufs Cover gedruckt. Das klingt fast so, als könnte es jetzt solche Geschichten auch noch zu anderen Ortsteilen Leipzigs geben. Ist ja nicht so, dass das Böse nur in Großzschocher zu finden wäre, wenn man es sucht. Es ist, wie man ja weiß, immer und überall.
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