Nicht alles war grau im Osten, als 1990 die große bunte Markenwelt über die Grenze schwappte. Manches war nur schlecht verpackt, schlecht gemanagt oder reine Bückware. Eine ganze Reihe Ostprodukte war vorher schon kaum mit besten Beziehungen zu bekommen und drohte 1990 gleich mit dem großen Schwapp völlig zu verschwinden. Doch einige dieser oft auch einzigartigen Produkte haben überlebt. Die Filinchen gehören dazu.

Wie hinter jedem unverwechselbaren Produkt steckt auch hinter diesem eine Idee, die mitten aus der Praxis stammt, ein Unternehmer, der wusste, was er wollte und was gebraucht wurde. Der Mann war Bäckermeister Oskar Kompa aus Apolda, der mit einer groß aufgezogenen Waffelproduktion nach dem 2. Weltkrieg den riesigen Kalorienbedarf der Nachkriegszeit deckte. Sein Sortiment war bis in die 1960er Jahre hinein auch von echten Kalorienkrachern bestückt. Doch während die DDR-Politik bis zum gnadenlosen Ende als Erfolg feierte, dass man bei Fleisch-, Milch-, Fett- und Zuckerproduktion den Westen überholt und in den Schatten gestellt hatte, sah Kompa etwas, was 1952 nur wenige Ernährungswissenschaftler sahen: dass nicht alle Menschen Kalorienmengen wie Schwerstarbeiter vertilgen wollten und konnten. Allen voran jene, die unter der aufkommenden Volkskrankheit Diabetes litten.

Deswegen gab es die ersten Leichtkostschnitten aus Kompas Bäckerei vor allem in entsprechenden Fachgeschäften. Und das änderte sich auch nicht, als Kompa 1956 die ersten Filinchen auf den Markt brachte und alle Modernisierungen der Apoldaer Bäckerei einem nicht abhalfen: der Tatsache, dass Filinchen bis zum Ende der DDR ein Produkt blieben, das so schwer zu bekommen war wie Bananen. Davon kann auch Jana Männig ein Lied singen, denn die so schwer zu ergatternden Brotwaffeln gehören zu den Erinnerungen ihrer Kindheit.

Kompa hat Vieles nicht mehr miterlebt, was die neuen staatlichen Besitzer aus seiner Bäckerei gemacht haben. Er ging lieber in den Westen und versuchte dort einen Neustart – ohne staatliche Bevormundung und immer neue Enteignungswellen. Es gibt kein einst privates Unternehmen in der DDR, das diese Wechselbäder nicht mitgemacht hat. Auch bei der letzten Runde unter Erich Honecker glaubten die staatlichen Planer noch, sie würden die wirtschaftlichen Erfolge besser planen und umsetzen können als die so arg befehdeten Privatunternehmer. Das Ergebnis war eine ausgewachsene Konsumgüterkrise, für die weder der böse Westen noch die Ölkrise verantwortlich waren.

Das taucht am Rande der Geschichte auf, die Jana Männig über das Apoldaer Unternehmen schreibt (reich bebildert mit Fotos aus der Anfangszeit). Die Filinchen waren eins jener Erfolgsprodukte in der DDR, die nie in ausreichender Stückzahl produziert werden konnten. Und 1990 schien die Geschichte, die einst mit Kompas kalorienarmer Brotwaffel begann, dann die übliche Abwicklungsgeschichte vor sich zu haben, wie sie fast alle anderen staatlich geführten Unternehmen erlebten. Doch Filinchen hatte Glück, ein neuer Gesellschafter wagte den Neustart und verschaffte dem gesunden Waffelbrot vor allem eines: eine neue Verpackung, die aus dem DDR-blassen Aschenputtel ein buntes Prinzesschen machte, mit dem fortan auch die Listenersteller bei nun nunmehr marktbeherrschenden westdeutschen Einzelhändler zu überzeugen waren. Denn 1990 flogen mit der Währungsumstellung ja sämtliche DDR-Produkte erst mal aus den Regalen, die neuen Supermärkte wurden komplett mit westdeutschen Produkten geflutet. Und es war auch für das Apoldaer Unternehmen ein langer Weg, wieder zurück in die Warenregale zu kommen.

Mittlerweile gehört das Filinchen (mit all seinen neuen Schwesterprodukten) zumindest in ostdeutschen Supermärkten zum Standardsortiment. Heute bekommt das Unternehmen die Bittbriefe aus dem Westen, weil die dortige Kundschaft das Produkt nicht im Supermarkt findet. Die Produktion in neuen Werkhallen am Rande Apoldas wurde längst vervielfacht. Niemand muss der Verkäuferin mehr ein unlauteres Angebot machen, wenn er mal ein Päckchen mehr haben möchte.

Und gerade bei all Jenen, die heute auf eine leichte, kalorienarme Nahrung achten (auch weil sie mittlerweile längst keine Schwerstarbeiter mehr sind), gehört die leichte Waffel auf den Frühstücks- oder Abendbrottisch, wird sie gern auch lustvoll belegt. Dass den Freunden des leichten Gebäcks dazu sogar wilde Phantasien kommen, belegt Jana Männig dann im Abspann des Büchleins, wo es noch ein paar Rezepttipps gibt für die Selbermacher – vom Avocado-Kokos-Aufstrich bis zum würzigen Sesam-Ingwer-Dipp.

Die Zeiten des fetttriefenden Werktätigenbrotes sind vorbei. Das würde auch kaum noch zu einer Zeit passen, in der die meisten Menschen eher kaloriensparende Büro- und Sitz-Jobs haben. Aber in diesen Zeiten wirkt das Filinchen erstaunlich modern und erinnert daran, dass die DDR durchaus auch mal die Chance hatte, ein richtig modernes Land zu werden, eine Chance, die 1972 / 1973 mit der letzten großen Enteignungswelle entgültig versiebt wurde.

Und da die Geschichte der Ost-Unternehmen Janas Männigs Steckenpferd ist, kann man noch von einigen dieser Produkt – und Unternehmensgeschichten lesen. Das ein oder andere findet sich ja schon in der Mini-Serie aus dem Buchverlag für die Frau – man denke nur an Rotkäppchen-Sekt oder die berühmten Spreewald-Gurken.

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