Bestimmt bekommt Axel Frey, der verantwortliche Redakteur, jetzt so langsam mit, was fรผr ein gewaltiges Projekt die Reformation eigentlich war. Er betreut die Reihe "Orte der Reformation" in der Evangelischen Verlagsbuchhandlung, die in 80-seitigen groรformatigen Stรคdteportrรคts sichtbar machen will, wo รผberall die Reformation in Deutschland und der Schweiz vor fast 500 Jahren ihre Wirkung entfaltete. In Torgau zum Beispiel.
Dieses Heft ist gerade erschienen, nachdem im Frรผhjahr auch Leipzig sein verdientes Portrรคt in der Reihe erhielt. Jetzt im Herbst folgen โKรถnigsberg und das Herzogtum Preuรenโ und โMecklenburg und Vorpommernโ. Es gibt also auch einzelne Lรคndertitel, die fรผr ganze Landschaften die Wirkungen dessen beschreiben, was Dr. Martin Luther da 1517 mit seinem Thesenanschlag in Wittenberg ausgelรถst hat. Tatsรคchlich mรผsste auch Prag noch einen Extra-Band bekommen, denn der Prager Professor Jan Hus gehรถrt eindeutig zu den Vorlรคufern Luthers und in etlichen seiner Thesen konnte sich der Wittenberger direkt auf den Prager Professor berufen. Was auch 100 Jahr nach dem Feuertod von Jan Hus noch brandgefรคhrlich war.
Die Zeit vor der Reformation war nicht ganz so stockkatholisch, wie man zuweilen annimmt. Und nicht nur einige Vertreter des Bรผrgertums warteten eigentlich schon lange darauf, dass der in Riten und Hierarchien erstarrte alte Trott endlich einmal reformiert wรผrde. Oder wie es Luther gesagt hรคtte: von altem, รผberflรผssigem Mummenschanz befreit. Auch weltliche Herrscher waren aufgeschlossen fรผr Verรคnderungen. Dazu gehรถrte natรผrlich auch Luthers Landesherr Kurfรผrst Friedrich der Weise, der zwar dem โalten Glaubenโ anhing, die Bemรผhungen Luthers aber unterstรผtzte. Er residierte in Torgau, der Stadt, die sich seit der Leipziger Teilung 1485 nach und nach zur Residenzstadt der Ernestiner entwickelte โ neben Wittenberg, Lochau und Weimar.
Und weil der historisch nicht so Bewanderte mit Ernestinern und Albertinern immer so leicht durcheinander kommt, fรคllt auch in diesem Heft oft der Name der Wettiner. Denn Wettiner waren sie beide. Nur kam es 1485 zu der folgenreichen Erbteilung zwischen den Brรผdern Ernst und Albert. Albert bekam den meiรnischen Teil, den wir heute mit Sachsen assoziieren, Ernst den westlichen Teil, der heute im Wesentlichen zu Sachsen-Anhalt und Thรผringen gehรถrt. Und weil er nach der Teilung keine eigene Universitรคt mehr besaร (Leipzig gehรถrte ja zum albertinischen Teil), grรผndete Friedrich der Weise 1502 eine eigene Universitรคt in Wittenberg, die dann zum Geburtsort der Reformation wurde.
In Torgau begann er, das Schloss nach und nach zu einer eindrucksvollen kurfรผrstlichen Residenz umzubauen. Die Fertigstellung hat er natรผrlich nicht mehr erlebt, das erlebten dann seine Nachfolger Johann und Johann Friedrich โ wobei Johann Friedrich ja bekanntlich das Pech hatte, im Schmalkaldischen Krieg auf der falschen Seite zu stehen und danach den sรคchsischen Kurfรผrstentitel zu verlieren โ an seinen Vetter, Herzog Moritz.
Alles Luther-Zeit. Und die Torgauer Stadtfรผhrer mรผssen immer hรถllisch aufpassen, wenn sie den Teilnehmern ihrer Stadtrundgรคnge erzรคhlen: Hier war Luther, da war er auch, aber โฆ
41 Aufenthalte Martin Luthers sind nachgewiesen in Torgauer Akten. Was logisch ist. Dieser Professor musste, wo er schon die ganze politische Welt beschรคftigte, auch รถfter bei seinem jeweiligen Fรผrsten vorsprechen. Dazu kam, dass die Reformation in Torgau ein bisschen frรผher ins Rollen kam als andernorts. Auch das wird manchem Leser neu sein: Auch im ernestinischen Sachsen ging es nicht gleich 1517 los. Auch dort galt weiterhin der Glaube des Landesherrn als maรgeblich. Und Friedrich der Weise unterstรผtzte Luther zwar, wechselte aber nicht seinen Glauben. Im Gegenteil. Wittenberg war auch damals noch ein Pilgerort fรผr all jene, die die gewaltige Reliquiensammlung des Fรผrsten sehen wollten.
Orte der Reformation: Luther und โder bรถse Wurmโ Leipzig
Am Sonntag, zur Feier von 475 Jahre โฆ
Die Reformation und die Fรผrsten: Auch Dresden macht die Reformation in Sachsen erlebbar
Man kommt nicht unbedingt โฆ
Der Geburtsort der Reformation und die Keimzelle der Aufklรคrung: Wittenberg
Mitteldeutschland befindet sich mitten โฆ
Trotzdem rumorten die Ideen Luthers โ gerade in Torgau. Denn es waren nicht die Einfรคlle eines einsamen Professors, sondern es war im Grunde die Bรผndelung einer ganzen Entwicklung, die seit Jan Hus gรคrte in ganz Deutschland. Das erstarkende Bรผrgertum konnte mit dem alten, zeremoniellen Firlefanz der Papstkirche nicht mehr viel anfangen. Seit dem Druck der Gutenberg-Bibel ein halbes Jahrhundert zuvor war auch die eigentliche Originalquelle des Christentums fรผr immer mehr Menschen lesbar. In Italien gรคrte die Renaissance. Das Bรผrgertum entwickelte ein neues Selbstbewusstsein โ und auch die Charaktere der Herrscher รคnderten sich. Noch lieรen sie sich โ wie Moritz und Friedrich โ im pompรถsen Harnisch darstellen. Aber die Cranach-Portrรคts zeigen schon, wie auch diese Mรคnner begannen, ein anderes, gebildetes Selbstbewusstsein auszustrahlen.
Was sie dann โ siehe Schloss Hartenfels in Torgau โ auch in neuen, kรผnstlerisch beeindruckenden Residenzen โ zur Schau stellten. Bei den Bรผrgern Torgaus hatte die Luthersche Logik schon vorher gezรผndet. Ab 1523 prรคgten Tumulte die Stadt, waren vor allem die Klรถster Angriffspunkt der Bรผrger. Doch den Wechsel in der Verfassung brachte tatsรคchlich erst der Nachfolger Friedrichs auf dem Fรผrstenthron, Kurfรผrst Johann.
Die Torgauer hatten sogar ein gewisses Glรผck, dass ihre Stadt im 18. und 19. Jahrhundert zur Festung ausgebaut wurde. Das verhinderte zwar eine frรผhe erfolgreiche industrielle Entwicklung, weil der enge Festungsgรผrtel das schlichtweg unmรถglich machte. Aber es erhielt die alte Stadt praktisch komplett, so dass hier in einer auch fรผr Sachsen seltenen Geschlossenheit eine stolze Bรผrgerstadt der Reformationszeit besichtigt werden kann. In letzter Zeit haben sich engagierte Bรผrger auch um den Erhalt wichtiger Gebรคude bemรผht, die vom Verlust bedroht waren โ dazu gehรถrt auch das Wohnhaus Georg Spalatins, eines der wichtigsten Mitstreiter Luthers.
Dass auch der Name Katharina von Boras mit Torgau verbunden ist, ist kein Zufall, denn es war ein Torgauer Bรผrger, der Kaufmann und Amtsschรถsser Leonhard Kรถppe, der 1522 fรผr neun Nonnen aus dem Kloster Nimbschen die Flucht organisierte. Amtsschรถsser war ein bedeutender Posten โ im Grunde war Kรถppe der Steuereinnehmer von Torgau. Die Amtschรถsserei ist noch heute in Torgau zu besichtigen. Nebst all den anderen Gebรคuden, die die kleine, von Prof. Hans-Joachim Kadatz zusammengestellte Stadtfรผhrung durch Torgau auflistet โ vom Schloss mit seinem einmalig schรถnen Wendelstein รผber die Kurfรผrstliche Kanzlei, das Hahnemannhaus und das Spalatinhaus bis zum Kentmannhaus, St. Marien und Rathaus natรผrlich nicht vergessen.
Nebenbei finden zwei wichtige Gaststuben Erwรคhnung, die man als Torgau-Besucher nicht verpassen sollte โ die Wirtschaft โHerr Kรคtheโ und die historische โBรคrenschenkeโ. Bรคren gibt es ja im Zwinger des Schlosses wieder zu bestaunen. โHerr Kรคtheโ alias Katharina von Bora, ist freilich nur mit ihrer kurzen Durchreise 1522 und mit ihrem Tod im Jahre 1522 mit Torgau verbunden: Bei ihrer Flucht 1552 vor der Pest in Wittenberg war sie vor den Toren Torgaus mit ihrem Wagen verunglรผckt und hat sich von den Folgen des Sturzes nicht wieder erholt. In der Stadtkirche St. Marien ist das eindrucksvolle Epitaph fรผr Katharina zu sehen.
Einzelne Artikel im Heft beschรคftigen sich natรผrlich ausfรผhrlicher mit der Festung Torgau, mit der Reformation in Torgau, mit Georg Spalatin und der Rettung seines Wohnhauses, mit Gabriel Zwilling, dem ersten Superintendenten, mit Katharina, mit dem โUrkantorโ Johann Walter und natรผrlich der Redsidenzstadt. Es gibt Tipps zu all den Museen und Hรคusern, die man besuchen kann โ und wohl auch sollte. Etwa zum Bรผrgermeister-Ringenhain-Haus, das wohl einzigartig ist in seinem Erhaltungszustand und zeigt, wie prรคsentabel die reichen Bรผrger der Renaissance wohnten. Wie die armen Bรผrger wohnten, kann man im Handwerkerhaus sehen. Wie die erfolgreichen Torgauer Brauer brauten (โTorgisch Bierโ), ist im Braumuseum zu sehen. Den Hausmannsturm des Schlosses kann man besteigen (56 Meter) und die Torgauer Geschichte gibt es in der Kurfรผrstlichen Kanzlei zu sehen.
Am Ende fragt man sich wohl eher, warum man noch nicht lรคngst mal in Torgau war. Von Leipzig aus ist man mit der S-Bahn recht fix dort, mitten im einstigen politischen Zentrum der Reformation.
โOrte der Reformation: Torgauโ, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2014, 9,90 Euro
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