Es ist ein besonderer Schatz, den Heinz Peter Brogiato und Bruno Schelhaas da in den Sammlungen des Instituts fรผr Lรคnderkunde in Leipzig (IfL) ausgegraben haben. Ein Schatz, den man dort auch nicht unbedingt vermutet hรคtte, denn das Institut sammelt ja vor allem Schriften und Dokumente zur Geografie, darunter auch die Nachlรคsse zahlreicher Geografen. Einer von ihnen war Joseph Partsch (1851 - 1925). Auch seine Studenten mussten ins blutige Kriegsgemetzel.

Partsch war 1905 auf den Geografielehrstuhl der Universitรคt Leipzig berufen worden. In seinem Nachlass, der im IfL aufbewahrt wird, fanden sich รผber 300 Feldpostbriefe, die seine ehemaligen Studenten ihm aus den Schรผtzengrรคben des Krieges schrieben. Ein Konvolut, das wohl recht einzigartig sein dรผrfte, denn Partsch wurde fรผr die jungen Mรคnner dadurch nicht nur zu einer wichtigen Bezugsperson, er bot ihnen auch den Kontakt in eine Welt der Wissenschaft, die viele der Briefschreiber bitter vermissten. Die meisten hatten erst kurz vor Ausbruch des Krieges ihr Studium abgeschlossen, etliche wurden direkt aus dem Hรถrsaal in die Kasernen beordert. Sie gehรถrten fast alle zu den ersten Jahrgรคngen, die zum Teil euphorisch in den Krieg zogen. Sie gehรถren auch zu jener Studentengeneration, die nicht nur im festen Vertrauen auf die gesellschaftlichen Zustรคnde aufgewachsen war, sondern auch in jener Stimmung, die medial seit Jahren vorbereitet war und 1914 ohne viel Federlesens in Kriegsbegeisterung und einen fast รผberheblichen Patriotismus umschlagen konnte.

Das Besondere an den Feldpostbriefen ist natรผrlich auch, dass die Schreiber ihrem geliebten Professor versuchten zu zeigen, dass sie ihr Studium nicht vergessen hatten und ihr Wissen anzuwenden wussten. Neben den Schilderungen der Erfahrungen im Artilleriebeschuss, in abgesoffenen Grabensystemen, in zermรผrbenden Stellungskรคmpfen und den Erlebnissen in den Lazaretten versuchen sie, die Bรถden Flanderns, die Kreideformationen ihrer Tunnelsysteme, die Flusslandschaften am fernen Dnjestr zu beschreiben, ihren unfreiwilligen Kriegstourismus als Chance der geografischen Exkursion zu begreifen. Mรถglich, dass Partsch sie in seinen vielen, vielen Antwortbriefen dazu auch extra aufgefordert hat.

Mรถglicherweise hat er so versucht, fรผr seine Schรผler die Leiden des Krieges zu mildern, ein Stรผck Normalitรคt in ihr Leben an der Front zu bringen. Womรถglich verbunden mit Trost, Zuspruch und einem Appell an ihren Patriotismus. Ein paar wenige seiner Antworten sind mit im Buch erhalten und lassen so eine Interpretation zu. Entsprechend gestimmt sind dann freilich auch viele der Briefe aus den Schรผtzengrรคben, versuchen die jungen Leute, das Erlebte mรถglichst heldenhaft zu schildern. Oft genug spรผrt man, wie sie sich einen Ruck geben, um den Erwartungen an ihr Soldatentum auch gegenรผber dem Professor in Leipzig gerecht zu werden.Nur einmal bricht das wirklich auf, in den Briefen Otto Lehmanns, der den Krieg in der รถsterreichisch-ungarischen Armee erlebt und augenscheinlich schon frรผh โ€“ รคhnlich wie Andreas Latzko โ€“ ein posttraumatisches Belastungssyndrom erfuhr, von dem er sich nicht mehr erholte. Er sieht den Krieg und seine Schrecken mit anderen Augen, kann fรผr sich die Sinnlosigkeit des groรŸen Schlachtens nicht mehr mit fernen, unfassbaren Zielen verbrรคmen. Wo die anderen noch von einem Siegfrieden schreiben, sieht er das Menschlichste zu Boden getreten, sieht die Lรผgen der Mรคchtigen, die das groรŸe Morden auch dann noch weiterfรผhren, als lรคngst klar ist, dass sie damit ihren eigenen Untergang eingeleitet haben.

Ein anderer Briefpartner Partschs macht das Dilemma noch deutlicher, gerade weil er noch bis kurz vor Kriegsende ohne Zweifel an die Propaganda des deutschen Militรคrs glaubt: Partschs Berliner Kollege Albrecht Penck (1858 โ€“ 1945), der weltberรผhmt wurde durch seine Forschungen zur Vergletscherung Europas wรคhrend der Eiszeiten. Auch Partschs Schรผler schwรคrmen in ihren Feldpostbriefen von Endmorรคnen und diluvianischen Aufschlรผssen, die sie in Grรคben und Kratern bewundern kรถnnen. Diluvium war das damals gern benutze Wort fรผr Eiszeit โ€“ heute sagt man Pleistozรคn stattdessen.

Und obwohl Penck einer der groรŸen Verfechter einer einzufรผhrenden politischen Geographie war, war er mehr als erschrocken, wie sehr ein ganzes Land vier Jahre lang belogen worden war. Die deutsche Presse hatte nicht nur einer konsequenten Militรคrzensur unterlegen, auch die Berichte รผber Frontverlรคufe, Schlachten, Reserven und die Stรคrken und Erfolge der Gegner waren durch das Militรคr kontrolliert. Was รผbrigens dazu fรผhrte, dass sich auch jenes Bild von รผberlegenen und durch nichts zu erschรผtternden Feldherren aufbauen konnte, das Hindenburg und Ludendorff 1918 abgaben, als sie jeden, aber jeden Zeitpunkt verpasst hatten, noch einen Frieden auf Augenhรถhe zu schlieรŸen.

Aus Pencks Briefen ist geradezu sein Erschrecken und seine Verwirrung herauszulesen, als sich die Ereignisse im Sommer 1918 zu รผberstรผrzen begannen. Es wird zwar in teilweise vรถllig รผberspitzten Bรผchern heutzutage wieder darรผber gestritten, wer denn nun eigentlich die Kriegsschuld trug. Aber selbst die in diesem Band versammelten Briefe zeigen ein gut Stรผck jener Wahrheit, die die Historiker so gern ausblenden. Die jungen Mรคnner, die da 1914 in den Krieg zogen, waren medial seit Jahren darauf vorbereitet worden โ€“ auch auf die Verachtung den Gegnern gegenรผber, die sich in vielen Briefen ausspricht, auch wenn die Schreiber oft versuchen, die Dinge sachlich zu schildern. Doch die Haltung, einer รผberlegenen, besseren oder gar heldischen Nation anzugehรถren, zeigt sich immer wieder. Und auch jenes ganz deutsche Erziehungsideal, dass Mรคnner keine Schwรคche zeigen. Selbst wenn sie, wie Kurt Trautner, den Krieg als eine einzige lange Tortur in Lazaretten und Krankenhรคusern erleben.Schon frรผh erfรคhrt der โ€œhochverehrte Geheimratโ€, in dem die jungen Mรคnner wohl auch eine Art Vaterfigur sahen, wie seine besten Schรผler und Assistenten weggerafft wurden. Er schreibt Nachrufe auf seine Schรผler und teilt an einer Stelle nรผchtern mit, dass schon ein Viertel eines ganzen Studentenjahrgangs tot auf den Schlachtfeldern blieb. Und Partschs Schรผler waren im Grunde รผberall, wo der moderne, industrialisierte Krieg sich austobte: an der Somme, an der Marne, bei Ypern, vor Verdun, einige auch in Palรคstina, in Serbien und Mazedonien. Und immer wieder wurden die Truppenverbรคnde, die eben noch den zermรผrbenden Stellungskrieg im Westen mitgemacht hatten, an die Ostfront geworfen, lernten die galizischen Sรผmpfe kennen und die heftigen Kรคmpfe am Narew. Zumeist waren sie einfache Soldaten oder Unteroffiziere, manche wurden im Lauf des Krieges bis zu Kompaniefรผhrern befรถrdert, weil die Offiziere der ersten Kriegsjahre lรคngst in den Kriegsgrรคbern Frankreichs lagen. Einige wenige wurden in den Heeresstรคben als Geografen tรคtig. Darauf kommt Heinz Peter Brogiato in seinem Beitrag am Ende des Bandes zu sprechen, als er von der Rolle des 1. Weltkrieges bei der Aufwertung des Geografieunterrichts in deutschen Schulen erzรคhlt. Dabei zitiert er sowohl Remarque als auch Hasek, dessen braver Soldat Schwejk sich ja in einer seiner Geschichten vรถllig verlรคuft in der รถstlichen Geografie.

Otto Lehmanns Briefe lassen schon in aller Emotionalitรคt das anklingen, war Latzko in โ€œMenschen im Kriegโ€ und spรคter auch Remarque in โ€œIm Westen nichts Neuesโ€ geschrieben haben. Man ahnt, wie sehr Remarques Antikriegsroman โ€œIm Westen nichts Neuesโ€ noch 1928 die Weimarer Republik erschรผttern musste, denn auch die Einsichten, die Albrecht Penck in seinen letzten Briefen an Partsch zeigt, waren ja nicht das Allgemeinverstรคndnis der Zeit. Im Gegenteil: Noch ehe der Friedensvertrag von Versailles unterzeichnet war, wurde eifrig an der DolchstoรŸlegende gestrickt, arbeitete das stockkonservative Deutschland an einem Heldenbild, das den verlorenen Krieg verklรคrte und den nรคchsten eifrig vorbereitete.

Und die deutschen Professoren haben ihren Teil dazu beigetragen. Denn die Art Patriotismus, mit denen die Studenten in den Krieg zogen, den hatten sie von ihren Lehrern mitbekommen. Und auf die ersten Briefe Otto Lehmanns muss Partsch auch entsprechend belehrend reagiert haben, denn in den nรคchsten Briefen entschuldigt sich Lehmann geradezu dafรผr, dass er die Dinge so bitterlich beim Namen nennt und auch von seinen eigenen Leiden erzรคhlt.

Die nachgestellten Texte von Nicolas Ginsburger und Heinz Peter Brogiato bleiben weitgehend distanziert, werten nicht und รผberlassen es dem Leser, sich ein Bild zu machen โ€“ auch von diesen jungen Geografen, die da als Kanonenfutter in die Kampfzonen geschafft wurden und die sich wie Kinder freuten, wenn ihnen ihr alter Professor etwas zu Lesen in die Schรผtzengrรคben schickte.

www.univerlag-leipzig.de

 

Heinz Peter Brogiato; Bruno Schelhaas, โ€œDie Feder versagt โ€ฆโ€, Leipziger Uni-Verlag 2014, 32,00 Euro

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