Manchmal können sich Schriftsteller glücklich schätzen, dass ihr Buch in die richtigen Hände gerät und zu etwas Neuem anstiftet. Muss ja nicht gleich die Komplettänderung des Lebens sein. Kann ja auch eine junge Künstlerin aus Leipzig sein, die ein Buch in die Hände bekommt und über eine Geschichte stolpert, die sie unbedingt in Bilder verwandeln will. So geschehen der Berliner Autorin Nina Jäckle.
2002 veröffentlichte sie im Berlin Verlag ihren Erzählungsband “Es gibt solche”. Zwei Jahre später kam er auch als Taschenbuch heraus und geriet in Leipzig der HGB-Studentin und Meisterschülerin Franziska Neubert in die Hände. Es war die Geschichte “Warten”, die sie inspirierte und anregte zu einem Zyklus von Grafiken, die das Warten in eindringlicher, fast fragiler Bildsprache zeigen. Und nicht irgendein Warten – auch wenn die Situation gerade durch die Reduktion der grafischen Elemente mehr als deutlich wird – sondern genau das, was Ninas Jäckles “Held” der Geschichte erlebt. 2007 bekam Franziska Neubert, die heute mit ihrer Familie in Leipzig lebt, die Prämierung der Stiftung Buchkunst für den Bild-Zyklus “Warten”.
Der Kunstanstifter Verlag in Mannheim hat sich jetzt daran gewagt, die Grafiken direkt mit der Geschichte von Ninas Jäckle zu verbinden. Herausgekommen ist dabei mehr als ein Kunstbuch. Auch wenn der hochwertige Druck natürlich zur Bilderreise einlädt, zum Sicheinlassen auf all die Situationen der Einsamkeit, die der männliche Protagonist erlebt, nachdem ihn das Verschwinden seiner Freundin, Partnerin, Lebensgefährtin völlig aus der Bahn geworfen hat.
Mit einem trockenen “Na dann” ist sie gegangen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, einfach so. Schon angekündigte Abschiede sind schmerzhaft genug. So einer aber macht nur noch ratlos. Und wirft in dieser Geschichte das ganze Lebensgefüge des Zurückgelassenen durcheinander, der auch die Kraft nicht findet, jetzt einfach an den Rädern zu drehen. So dass der Leser anfangs durchaus rätselt: Ist der jetzt so eine arme Sau ohne Job, vom Jobcenter auf Hartz IV gesetzt und ohne neuen Mut, was Anderes anzufangen? Hat der einen Todesfall zu verkraften und sieht jetzt nur noch ein einsames Leben in engen Kreisen vor sich?
Es dauert eine Weile, bis das eigentliche Motiv seiner Mutlosigkeit deutlich wird. Auf einmal werden all die tristen Abläufe in seiner engsten Umgebung wichtig und bestimmen seine ansonsten völlig inhaltslosen Tage – die Schritte der Nachbarin auf der Treppe, die spielenden Kinder auf dem benachbarten Schulhof, die Frau mit ihrem Hund, die jeden Morgen zur selben Zeit auftaucht. Da fragt man sich schon: Wie viel eigenes Leben hatte der Mann eigentlich, bevor seine Gefährtin einfach ging? – “Na dann.” – Worüber haben sie geredet, oder war da schon längst nichts mehr, so dass auch ein formulierter Abschied überflüssig ist? Oder zumindest irgendwie sinnlos. Wie beendet man ein jahrelanges Schweigen in der Partnerschaft?
Natürlich gehört Jäckles Geschichte zu den vielen oft bedrückenden Geschichten, die jüngere Autoren in letzter Zeit über das Leben in diesem Land, in dieser zunehmend vereinsamenden Gesellschaft und die zerrütteten Beziehungen schreiben. Immer wieder neu. Wenn man die alle liest, hat man wohl ein recht komplexes Bild über die Schwierigkeit, in einem lärmenden Meer der Nichtigkeiten überhaupt noch Menschen zu finden, mit denen der Kontakt, die Nähe und das Gespräch funktionieren. Und die nicht seltsame Umwege gehen müssen wie der Einsame in dieser Geschichte, der augenscheinlich auch niemanden sonst hat, mit dem er über seine Gefühle und sein Verlassensein reden kann. Peinlich ist es es ja auch irgendwo, wo doch ein buntes Medium nach dem anderen in unzähligen Variationen über die Liebeshüpfereien der Prominenten berichtet.
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Der verdichtete Stil Nina Jäckles erzeugt natürlich eine Stimmung, die mit den Bildern von Franziska Neubert korrespondiert. Man riecht das Haus regelrecht, den Hausflur, die stinklangweilige Straße. Augenscheinlich ist auch das Wohnen eher nur ein Verlegenheitszustand, kein Sichheimischfühlen. Da schaut der Sprachlose vom Bürgersteig hinauf zu den Fenstern seiner eigenen Wohnung – und fast ist es so, als könne er an dieser Stelle einfach aus der Geschichte fallen und jemand anders übernimmt seine Rolle, sein stumpfes Kreisen durch die leeren Räume, sein Lauschen auf die wenigen Geräusche im Haus.
So betrachtet auch eine sehr deutsche Geschichte – voller Hilflosigkeit, voller Nachdenken in den immer selben Schleifen über die immer gleichen Dinge. Sogar über das von außen so selbstverständlich wirkende Dasein des Hausmeisters.
Am Ende ist alles ein bisschen anders. Es ist zum Glück keine Geschichte, die ganz und gar in diesen Kreisen versinkt, sondern eine, die das ganz normale, unberechenbare Leben einbrechen lässt. Und vielleicht schafft es der Bursche ja, das Muster zu verlassen. Womit man beim wichtigsten grafischen Mittel wäre, das Franziska Neubert benutzt, um die Geschichte zu illustrieren. Was übrigens schon beim Einband beginnt und dem fast vertraut wirkenden Tapetenmuster, das schon zum Einstieg klar macht: Hier wurde lange nicht renoviert. Und wenn sich in diesen ewig nicht renovierten Häusern, Wohnungen, Lebenssituationen auch nur das Geringste ändert, dann wird das ziemlich schnell eine lähmende und bedrohliche Katastrophe.
Warten
Nina Jäckle, Kunstanstifter Verlag 2014, 22,50 Euro
Unter den Gefühlen der Lähmung lauern die Ängste. Man kann sie sehen in diesen vergilbten Streifenmustern, die Franziska Neubert geradezu exzessiv benutzt, richtig mit Lust an diesen Mustern einer aufs kleinste Maß geschrumpften Welt, aus der man normalerweise schreiend davonläuft. Aber es muss Millionen Menschen geben, die genau das als ihr Leben begreifen. Und die nicht mehr ein und aus wissen, wenn eine einfach verschwindet – ohne “Tschüss” und “Doswidanja”, weil nichts mehr zu sagen ist.
Die Stadt, in der das passiert, ist gleichgültig, auch wenn man sich beim Lesen eher Hannover vorstellt oder Pirmasens. Aber das könnte auch Berlin sein oder Leipzig. Beinah ist es eine Allegorie auf eine der modernen Höllen, die manche Menschen als ihr “kleines Paradies” empfinden. Und andere als das Ende aller Träume.
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