Muss man das Mittelalter verteidigen? Es ist wohl so. Wir leben in einer seltsamen Zeit, in der auch allerlei Medien vom Kino bis hin zu diversen sensationslüsternen Websites, Serien und Büchern sich an den Steinbrüchen der menschlichen Geschichte bedienen und dabei Bilder produzieren, die wenig bis nichts mit den tatsächlichen Ereignissen zu tun haben. Der Geschichtsprofessor Michael Prestwich hat jetzt ein Buch zum Kennenlernen geschrieben.

Man darf tatsächlich sagen: jetzt. Denn das Buch, das im Oktober bei Thames & Hudson in London erscheint, kommt parallel auf Deutsch bei Koehler & Amelang in Leipzig heraus. Auf Englisch hat es den eingängigen Titel “Medieval People”. Aber wie übersetzt man das ins Deutsche, ohne dass dieses Buch untergeht in den Stapeln der üblichen Mittelalter-Bücher, in denen es um Burgen, Ritter, Pest und Aberglauben geht? Ist ja nicht so, dass es in deutschen Buchhandlungen da anders zugeht als in englischen. Die potenziellen Käufer sind durch allerlei düstere Filme und Serien angefixt, die sie sich in Kino und TV reingezogen haben, durch ganze Stapel obskurer PC-Spiele. Selten bis nie haben sie die Dokumentationen zum Thema gesehen. Mittelalter ist zu einem Tummelplatz der Sensationslust geworden.

Da fühlte sich der Mittelalter-Experte Prestwich in seinem Ruhestand natürlich genötigt, etwas dagegen zu setzen. Mal keine populärwissenschaftliche Abhandlung über das Zeitalter, über dessen Grenzen sich die Wissenschaftler noch heute streiten. Der Streit selbst ist spannend. Beginnt das Mittelalter mit dem Ende des (west-)römischen Reiches oder erst im Jahr 800 mit der Krönung Karls des Großen zum Kaiser? Endet es mit der Erfindung des Buchdrucks, mit Kolumbus’ Landung vor Amerika oder 1517 mit Luthers Thesenanschlag?

Prestwich geht auf den Streit im Vorwort kurz ein. Ist ja seine Domäne. Er hat schon einige Bücher geschrieben über die englischen Könige dieser Zeit, über die Plantaganets, englische Politik im 13. Jahrhundert, über Ritter und über Waffen und Kriegsführung im Mittelalter. Er kennt also die Zeit, die frühen Nationen, ihre Herrscher und den Stand von Wissenschaft und Technik.Und im Unterschied zum “Dunklen Zeitalter”, wie man die Zeit zwischen der Absetzung des weströmischen Kaisers Romulus Augustulus 476 und der Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahr 800 meist nennt, war die Folgezeit eine sehr bewegte – der Keim für die modernen europäischen Staaten wurde gelegt, die Idee der Universität wurde geboren, technische Erfindungen beschleunigten die Entwicklung, Kunst und Architektur erlebten neue Blüten. Und das Meiste ist auch mit Dokumenten recht gut belegt, so dass auch die Entwicklung des modernen Rechts, der Handelsbeziehungen und des modernen Geldtransfers nachvollziehbar sind. Nicht nur Epen und Legenden wurden geschrieben, sondern auch schon Chroniken und Biografien, die die Persönlichkeiten der Zeit lebendig machen. Und der Leser wird unter den 70 Persönlichkeiten, die Prestwich ausgewählt hat, die meisten kennen – wenigstens dem Namen nach.

Einige haben in letzter Zeit schon deshalb für Furore gesorgt, weil sie ein großes Jubiläum hatten – wie eben Karl der Große, dessen Todestag sich 2014 zum 1.200. Mal jährt. Keine Frage, dass der Mann in diesen Reigen gehört, quasi als Nr. 1 im “Zeitalter der Imperien”, mit dem Prestwich die Zeit von 800 bis 1100 überschreibt. Nicht nur Frankreich entstand in dieser Zeit, auch Deutschland und England nahmen in dieser Zeit Kontur an. Wobei Prestwich zumindest versucht, den besonderen englischen und nordeuropäischen Blick auf die Geschichte zu verlassen. Denn mit den Wikingern öffnet sich der Blick auch auf die Staatengründung der Kiewer Rus, das blühende Persien wird mit Avivenna berührt und die Keimzelle des späteren Spaniens liegt auch in dieser Zeit – zumindest mit der Legende von El Cid. Auch wenn sich diese Heldengeschichte – wie so viele – beim genaueren Betrachten als etwas anders darstellt, als das Epos gern weismachen möchte.

Aber die neuen Nationen hatten allesamt ihre Gründungsmythen. Manche bekamen die nötigen Legenden erst später – wie Frankreich mit Jeanne d’Arc, deren Auftritt aber erst fast am Ende des Mittelalters stattfand, im frühen 15. Jahrhundert. Auch die wichtigen englischen Gründungslegenden bekamen ein Kapitel, in diesem Fall mit Geoffrey von Monmouth (12. Jahrhundert), der die Artus-Legende populär machte. Ganz konnte Prestwich das englische Übergewicht nicht vermeiden. Hätte sich ein deutscher Mittelalterspezialist hingesetzt, hätte er wohl auch noch einige Figuren eingefügt, die das eigene Land noch besser ausleuchten. Denn Prestwich versucht die Geschichte eben nicht nur über die Königsebene zu erzählen – auch wenn jede Menge Könige drin vorkommen (wenn man auch die deutschen Ottonen schmerzlich vermisst). Es kommt Kaiser Barbarossa genauso vor wie Alexander Newski (der die Kreuzritter auf dem Peipussee besiegte), Dschingis Kahn genauso wie der letzte Herzog von Burgund, Karl der Kühne.

Mit Marco Polo kommt der Blick auf den sich ausweitenden Handel der Zeit ins Buch, mit Dante und Petrarca die aufblühende italienische Dichtung – mit Chaucer übrigens auch die englische. Unübersehbar steckt in vielen Persönlichkeiten schon das heraufdämmernde nächste Zeitalter, das sich genauso schwer abgrenzen lässt: die Renaissance. Gehören Filippo Brunelleschi und Gutenberg nicht schon in dieses neue Zeitalter? Genauso wie der Hussiten-General Jan Zizka?Und welche Rolle spielte eigentlich die Kirche, deren Päpste zu immer neuen Kreuzfahrten ins Heilige Land aufriefen? Wo wir dann dem berühmten Saladin begegnen und dem bedauernswerten Jaques de Molay. Die Begegnung mit der arabischen Welt war unübersehbar die eigentliche Triebkraft für die Modernisierung Europas, auch wenn es christliche Theologen wie Thomas von Aquin waren, die das Denken Europas bestimmten. Oder täuscht man sich da schon, weil es außerhalb der Klöster und Universitäten kaum schriftliche Überlieferungen gibt?

Prestwich versucht die Personen, die er ausgewählt hat, im Kontext ihrer Zeit zu beschreiben. Was nicht immer einfach ist, denn auch hier gilt: Die Sieger schreiben die Geschichte. Da kommen manche starken Persönlichkeiten, die trotz aller Müh zu keinem Erfolg kamen, oft nicht gut weg. Ein paar derbe Seitenhiebe auf Shakespeare und was der mit der englischen Geschichte und ihren Königen angestellt hat, kann sich Prestwich natürlich nicht verkneifen. Womit er eben auch indirekt das Problem benennt, dessenwegen er sich an die Arbeit für dieses Buch gemacht hat: Begabte Künstler haben eine erstaunliche Macht, Geschichte im Nachhinein umzudeuten und neue Legenden zu schaffen. Die Zuschauer nehmen dann meist für bare Münze, was auf der Bühne geschieht. Die Historiker aber haben die Arbeit, Erfindung von Wahrheit zu trennen. Und sie sind nicht diejenigen, die bestimmen, ob das auch gelingt.

Der nächste durchgeknallte Regisseur kann im nächsten Mittelalter-Epos wieder alles falsch erzählen und die meisten Zuschauer werden es glauben. Auch das ganze Genre der Historischen Fantasy lebt davon. Action ist alles, die Welt ist in die heftigen Kämpfe von Gut und Böse verstrickt … Dass es meist ganz anders war und die Verhältnisse oft genauso komplex und verwirrend wie heutzutage, erzählt Prestwich so gedrängt wie möglich. Sollen ja keine Monografien werden, sondern kleine, vier Seiten knappe Kurzporträts, angereichert durch Bilder aus der Zeit, so dass auch der künstlerische Reichtum des Mittelalters sichtbar wird.

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Von Karl dem Großen bis Gutenberg
Michael Prestwich, Koehler & Amelang 2014, 39,95 Euro

Wer sich wirklich fürs Mittelalter interessiert, der will hinterher natürlich noch mehr haben. 70 Persönlichkeiten können nur ein kleiner Ausschnitt sein aus dem reichen Angebot von Berühmtheiten, die sichtbar werden, wenn man sich tatsächlich einmal in diese sieben Jahrhunderte vertieft. Aber Prestwich versucht ja auch, die ganze Palette der Lebenswelten irgendwie mit ins Buch zu bekommen – vom Kloster bis zum Piratenschiff, vom Bauern bis zum Mathematiker. Am Ende hätte er auch schreiben können: Kürzer ging’s nicht. Mehr geht immer. Denn eines ist sicher: Das Mittelalter war eine reiche Zeit. Und auch diese Frage steht: Endet es eigentlich an der Wolga? Oder muss man mit Dschingis Kahn wenigstens bis China?

Karl der Große auf dem Cover der deutschen Ausgabe ist also eine Einladung, auf sehr kompakte Art ein ganzes Zeitalter zu besichtigen. Am Ende mit dem Gefühl: Das kennst du irgendwie. Soviel anders sind die heute Berühmten auch nicht. Und die Streithammeleien sind die alten. Was so manchen Forscher und Künstler natürlich auch zu der Ansicht bringt, dass das Mittelalter noch gar nicht zu Ende ist. Und wohl auch eine ganze Weile noch nicht enden wird.

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