Den Jakobsweg gibt es nicht erst seit Hape Kerkelings Aufbruch in die wandernde Selbsterfahrung. Es gibt ihn auch nicht nur in Spanien auf den letzten Kilometern nach Santiago de Compostela. Ein ganzes Netz von Jakobswegen durchzieht seit dem Mittelalter Europa. Aber in jüngster Zeit erleben sie eine Art Wiederentdeckung. Auch in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Hier ist Josef Fischer gewandert.
Die Leipziger kennen ihn noch als Leiter des Amtes für Statistik und Wahlen der Stadt. Ein ruhiger, freundlicher Mathematiker, für den der Jakobsweg nicht erst eine Entdeckung des Ruhestandes war. Denn den Jakobsweg gibt es ganz offiziell in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wieder seit 2003. Eine gelbe Muschel auf blauem Grund zeigt dem Wanderer, dass er auf der richtigen Route unterwegs ist, die im Wesentlichen dem Verlauf der alten Handelsstraße Via Regia entspricht. Denn die Pilger des Mittelalters, die damals die weite Tour ans mutmaßliche Grab Jakob des Älteren, eines der zwölf Jünger Jesu antraten, hatten natürlich keine extra angelegten Wanderwege, sondern nutzten die relativ sicheren Handelsstraßen, um ihre Reise zu absolvieren. Unterkunft fanden sie in der Regel in Klöstern am Weg. Die Reise dauerte gemeinhin Monate. Und gerade das fasziniert heute viele Wanderer, die auf dem Jakobsweg pilgern.
Das hat auch Josef Fischer fasziniert. Und den Wunsch, den heimischen Teil des Jakobsweges zu erwandern, hatte er auch schon in seiner Amtszeit im Leipziger Rathaus. Ein Stück weit hat er sich das auch schon vorher erfüllt. Das ist die erste Tour, die er in seinem Buch beschreibt. Er hat dazu jenen Abschnitt gewählt, der praktisch vor unserer Haustür liegt und den man ohne Probleme an einem Tag bewältigen kann.Ein guter Einstieg ist dazu an der Jacobstraße durch die Elster-Luppe-Aue Richtung Merseburg. Natürlich fällt auf, dass der Wanderweg nicht ganz identisch ist mit der alten Handelsstraße. Aber an Stelle der Handelsstraßen sind ja heute im Wesentlichen stark befahrene Bundesstraßen wie die B6 zu finden. Da ist kein gutes Wandern.
Also liegen die heutigen Jakobswege etwas abseits davon, decken sich oft mit anderen beliebten Wanderwegen – in Leipzig zum Beispiel mit dem Gosewanderweg, auf dem man natürlich auch Richtung Merseburg wandern kann. Für Josef Fischer war Merseburg ein Test. Man muss ja auch seine eigenen Möglichkeiten erkunden. Wie weit tragen einen die eigenen Füße? Schafft man 20 Kilometer am Tag, oder 30? Was beim Pilgern keinen Sinn macht, ist Eile oder gar der Versuch, Höchstleistungen zu erbringen. Wer das sucht beim Wandern auf dem Jakobsweg, der wird wohl nicht viel Gewinn mitnehmen.
Aber warum soll man nun gerade den Jakobsweg wandern?
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Die Antwort gibt Josef Fischer nicht extra, auch wenn er im späteren Verlauf seiner Wanderungen den Kampf mit seiner Krebserkrankung thematisiert und das Wandern auch als Teil des großen Glücks, auf Erden sein und ein paar schöne Stücke davon sehen zu dürfen. Wobei es auch nicht die Erkrankung ist, die ihn auf den Weg bringt, eher die Neugier und der lang gehegte Wunsch, den kompletten Jakobsweg auf dem Gebiet von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen einmal abzulaufen – von Görlitz über Leipzig und Erfurt nach Vacha an der Grenze Thüringens zu Hessen, von wo es natürlich immer weiter westwärts geht.
Dabei hat er sich auch nicht gleich die ganze Strecke vorgenommen. Schon die Tour von Görlitz nach Leipzig ist eine kleine Selbsterfahrung, wenn man noch kein geübter Wanderer ist. 200 Kilometer sind das, die auch zu einer Qual werden können, wenn man – wie es Josef Fischer passierte – gleich auf der ersten Etappe in strömenden Regen kommt. Man lernt aber auch bald, dass selbst Wanderführer für den Jakobsweg schnell veralten, dass manche Herberge, die eingezeichnet ist, unvermutet geschlossen ist, dass Gaststätten verriegelt sind oder Einkaufsmöglichkeiten verschwunden.
Wer durch ländliche Regionen in Mitteldeutschland wandert, lernt die Welt wieder mit anderen Augen zu sehen. Auf einmal geht es um den Grundbedarf – und man erlebt mit knurrendem Magen selbst, wie das ist, wenn an der Wanderstrecke die alten Versorgungs- und Einkehrmöglichkeiten verschwunden sind, weil sich derlei in Dörfern und kleinen Städten nicht mehr rentiert. Ein Phänomen, dass der Wanderer dann auch in Sachsen-Anhalt und Thüringen erleben sollte. Demographische Entwicklung am eigenen Leib erlebt. Da lernt man zu haushalten und vorzusorgen und auch ein paar Kilometer mehr zu laufen als geplant, um doch noch ein Bett zur Ãœbernachtung zu finden.Am Ende des Buches gibt Josef Fischer seiner Hoffnung Ausdruck, dass eine Einrichtung wie der Jakobsweg viel mehr Wanderer anzieht. Denn das wäre für die Orte am Weg ein kleines Stück Hoffnung – und die Chance für kleine Gaststätten und Gasthöfe, zu überleben oder gar aufzublühen. Die Wanderer müssen ja nicht bis nach Santiago de Compostela durchwandern. Das Wichtigste, was zu einer Pilgertour gehört, lernt man unterwegs. Denn allein schon das Laufen zwingt zur Einkehr und zum Langsamersein. Es ist eben kein Auto- und kein Schnellzug-Tempo. Man setzt sich selbst seine Ziele und lernt spätestens nach der ersten Blase am Fuß, wie wichtig auch Pausen und Schonung sind.
Man trifft andere Wanderer, die in einem anderen Tempo unterwegs sind, manchmal zu anderen Zielen. Man lernt, auf die Wegmarken zu achten, die manchmal auch einfach verschwunden sind, weil Wege untergepflügt, Bäume gefällt oder neue Straßen gebaut wurden. Da gehören dann Umwege dazu, die manchmal weh tun können. Da lernt man aber auch, die Leute zu fragen, auch wenn die ersten, die man trifft, oft gar nicht wissen, dass es in ihrem Ort überhaupt einen Jakobsweg gibt.
In gewisser Weise ist Josef Fischers Erfahrung mit dem Jakobsweg auch zweigeteilt. Denn nach der Tour von Görlitz nach Leipzig hat er das schwerste Kapitel in seinem Leben zu bestehen. Und so steht der Aufbruch von Merseburg nach Vacha zwei Jahre später dann ganz unter dem Zeichen der Genesung, der Freude darüber, dass die Beine wieder tragen und die Tagestouren zu bewältigen sind. Und auch die leuchtende Freude über die Schönheiten der mitteldeutschen Landschaft ist wieder da, auch wenn der Wanderer den Statistiker in sich nicht verleugnen kann, der gern über die Höhenmeter staunt, auf die ihn die Wege führen, und über die zurückgelegten Kilometer.
Was einer denkt unterwegs, das kann man sowieso nicht aufschreiben. Das ist dann das so wichtige Selbstgespräch, das jeder Pilger mit sich führt. Da muss er nicht einmal tief gläubig sein oder Genesung suchen.
Dass man die Wanderung auch mit zahlreichen Kulturerlebnissen am Wegrand bereichern kann, liegt in der Natur der Sache. Es liegen Kirchen, alte Städtchen, Burgen und Schlösser am Weg. Und eine wichtige Lehre ist wohl: Wer losgeht, nimmt sich Zeit. Hier hat er sie. Rund 450 Kilometer lang wäre die ganze Tour von Görlitz bis Vacha. Mancher nutzt einfach die Wochenenden, um sein Stück zu laufen oder schließt sich einer Pilgergemeinschaft an, um regelmäßig zu wandern. Das Buch erzählt zwar von einer intensiven Selbsterfahrung – aber es ist auch eine Einladung an alle, die einfach nicht wissen, wie sie aus dem üblichen Trott herauskommen. Man muss sich nur irgendwo einloggen in diesen Weg und loslaufen und lernen, Vertrauen darauf zu haben, dass es für alles unterwegs auch eine Lösung gibt.
Josef Fischer “Auf dem Jakobsweg”, Pro Leipzig, Leipzig 2014
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