Es gibt Bücher, die verschwinden einfach, weil die Autoren durch alle Raster fallen. Oder weil sie von keinem Verlag weiter gepflegt wurden. Dann und wann tauchen dann solche Neuentdeckungen wieder auf und man fragt sich wohl zu Recht: Was ist da noch alles verschwunden und vergessen? Wer hegt eigentlich das Feld der Literatur? - In der Regel sind es kleine Verlage wie der Milena Verlag in Wien. Und Andreas Latzko ist so eine überfällige Wiederentdeckung.
Er gehört neben Remarque, neben Heinrich Mann und Jaroslaw Hasek. Sein Buch “Menschen im Krieg” war, als es 1917 in der Schweiz erschien, ein Bestseller. Karl Kraus rief in der “Fackel” dazu auf, das Buch nach Österreich hineinzuschmuggeln, denn da war es verboten. Genauso wie Latzkos nächstes Buch – “Friedensgericht” – in den kriegführenden Ländern Europas verboten wurde. Was den Blick auf ein Thema lenkt, das die Historiker gern ausblenden und so tun, als spiele es keine Rolle: Die mediale Vorbereitung und Unterstützung der Kriege – nicht nur durch Propaganda, Fehlinformation und Zensur, sondern auch durch die komplexe Verhinderung aller Wortmeldungen zum Frieden. Ein Vorgang, den Barbusse in Frankreich mit seinem Antikriegsbuch “Le Feu” (1916) genauso erlebte wie Heinrich Mann in Deutschland mit “Der Untertan”, dessen Erscheinen in der Zeitschrift “Zeit im Bild” abgebrochen werden musste, obwohl es kein Antikriegsbuch war – aber dafür zeichnete Mann mit seinem Helden Diederich Heßling sehr genau nach, wie ein Krieg zusammengebraut wird in einem Land, in dem sich Duckmäusertum als Heldentum geriert. Erscheinen durfte “Der Untertan” als Buch erst 1918 – und den Lesern fiel es wie Schuppen von den Augen.
Augenscheinlich ist es so, dass die Atmosphäre einer Zeit Menschen sehr wohl programmiert und dazu bringt, sich opportunistisch zu verhalten, ohne dass sie sich dessen noch bewusst sind, wie sehr sie Teil einer Kampagne sind. Und zumindest für Deutschland ist es mittlerweile sehr gut belegt, dass der 1. Weltkrieg schon weit vorher medial vorbereitet wurde. In Österreich wird es nicht viel anders gewesen sein.
Andreas Latzko war schon 38, als er im August 1914 als Reserveoffizier in die k.u.k.-Armee eingezogen wurde. 14 Monate lang stand er im Krieg in einer Artillerie-Batterie der Armee Boroevic, bevor ein Nervenzusammenbruch ihn dienstuntauglich machte. Damals hieß das Leiden noch “Kriegszitterer”, heute ist es als posttraumatisches Belastungssyndrom bekannt. Zur Rekonvaleszenz durfte Latzko in die Schweiz fahren, wo er die sechs Novellen aus diesem Band schrieb. Auch weil er dem Rat der Ärzte nicht folgen wollte, über sein Kriegstrauma nicht mehr nachzudenken. Verdrängen und Nichtdrüberreden galt damals noch als angeratene Therapieform.
Aber Latzko wählte den besseren Weg: Er schrieb über seine Kriegserlebnisse und er sparte die traumatischen Erfahrungen dabei nicht aus. In seinen Novellen wird jener Krieg sichtbar, der in den offiziellen Darstellungen der Kriegsmächte nicht auftauchen durfte – das Elend der Schützengräben, das Grauen eines Artilleriebeschusses, die Unbarmherzigkeit des Lebens an der Front, die Allgegenwart und Hässlichkeit des Todes. Es sind scheinbar sechs verschiedene Helden, die Latzko auftreten lässt in kleinen, sauber erzählten Geschichten, die voller Unruhe auf ihren jeweiligen Höhepunkt zustreben. Der Tod ist allgegenwärtig. In “Feuertaufe” lässt Latzko einen Offizier auftreten, der ähnlich wie er von heut’ auf morgen an die vorderste Front geschickt wurde, einen Mann, der eigentlich schon mitten im Leben steht und weit von den kämpferischen Idealen seines jungen 20-jährigen Leutnants entfernt, der weiß, das er Männer in den Tod führt, die ihre Arbeit, ihre Familie, ihre Kinder und Geliebten zurückgelassen haben. Und die nun zu etwas werden, was in den Planungsständen der Oberkommandos nur noch “Menschenmaterial” heißt.
Menschenmaterial, das nach der Schlacht winselnd auf dem Sammelplatz fürs Lazarett liegt – Thema mehrerer Geschichten, in denen die fürs Leben Gezeichneten im Mittelpunkt stehen. Eine Geschichte sticht dabei heraus, weil sie die Perspektive wechselt und den General zeigt, der 60 Kilometer hinter der Front sein Leben genießt und vor allem vor einem Angst hat: dem baldigen Frieden. Und natürlich vor all den abgerissenen, zerstörten und kaputten Gestalten aus dem Lazarett, die er in seiner Kleinstadtidylle nicht sehen will. Es sind bittere und genaue Geschichten, an vielen Stellen auch erschütternd, weil sie plastisch machen, wie schnell Mitgefühl und Menschlichkeit auf der Strecke bleiben, wenn Menschen in die Mühlen der Kriegsmaschinerie geschickt werden.
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Und auch wenn Latzko den Fokus ganz auf seine leidenden und gespaltenen Helden richtet, tritt ein ganz ähnlicher Effekt ein, wie ihn zehn Jahre später Remarques “Im Westen nichts Neues” ausgelöst haben muss: Er macht die ganze Sinnlosigkeit des Krieges sichtbar. Hinter der Fratze des aufgeblasenen Nationalismus gibt es nichts, was diesem Wüten der Kriegsmaschine einen Sinn gibt. Im Schützengraben bleibt von all den hohlen Phrasen, mit denen der Krieg als heldenhaft, patriotisch, gar reinigend gepriesen wurde, nichts übrig.
Die Intensität, mit der Latzko erzählt, erinnert an Babels Reiterarmee. Im Grunde könnte man im Jahr 2014 eine ganze Bibliothek mit kluger, lebendiger und menschlicher Anti-Kriegsliteratur zusammenstellen. Und eigentlich verwundert es, dass keine einziger (Groß-)Verlag so eine Reihe zustande gebracht hat. Stattdessen verstopfen allerlei Ernst-Jünger-Schwarten die Regale, wird das alte Lamento über die Schuldfrage in dicken Historiker-Schinken aufgegossen, als wenn es darum ginge, wenn zum Krieg gerüstet wird. Kriege fallen nicht vom Himmel, sie werden auch nicht zufällig ausgelöst. Generalstäbe und Rüstungswirtschaften bereiten sich lange vorher darauf vor. Und dann braucht es nur noch jene lächerliche Szene der offiziell so gern unschuldigen Diplomatie, in der Herren im feinen Zwirn beschließen, mit anderen Herren im feinen Zwirn vorerst nicht mehr zu reden, bis ein paar Hekatomben “Menschenmaterial” zermalmt, zerschossen, verbrannt sind.
Menschen im Krieg
Andreas Latzko, MILENA Verlag 2014, 20,90 Euro
Auch wenn Latzko sich ganz auf das Menschliche und Zerschundene seiner Figuren konzentriert, ist die Anklage doch deutlich herauslesbar. Und Karl Kraus verstand das Buch zu Recht als das wichtigste Antikriegsbuch des Jahres 1917. Denn diejenigen, die von Kriegen profitieren, die haben kein Interesse daran, dass ihre falsche Heldenpropaganda von den realen Bildern aus der Todeszone konterkariert werden.
Das Buch ist so aktuell wie 1917. Und es zeigt – auch wenn das alles schon 100 Jahre her ist – wie die Mechanismen nach wie vor wirken, aus denen Kriege gebraut werden und die Menschen zu Schlachtmaterial machen. Auch die Bücherverbrennung der Nazis trug dazu bei, Latzko aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwinden zu lassen. Dazu kam die Tatsache, dass der Österreicher mit einem ungarischen Vater, einem Karrierestart in Deutschland, einem Exil in der Schweiz und einem Alter in Armut in den Niederlanden nicht in die üblichen nationalen Schubladen passt. Kein Land hat “Hierher!” gerufen, als es darum ging, den Autor in den Literaturkanon des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Das ändert sich jetzt so langsam. Und mit “Menschen im Krieg” bringt der Milena Verlag jetzt genau das richtige Buch zum 100. Jahrestag des Auslösens des 1. Weltkrieges. Man kann es neben den “Schwejk” stellen und neben “Im Westen nichts Neues”, und es steht da genau richtig.
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