Das Buch sieht nicht nur aus wie das Ergebnis einer Forschungsarbeit, es ist auch eins. Der Titel des Projekts am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V. in Dresden war noch etwas länger. Im Grunde hat man gleich mehrere Themen gleichzeitig beackert, die sich aber ab 1945 alle überlagerten. So simpel wie in Geschichtsbüchern finden solche Umbrüche niemals statt. Das Thema war dran.
Oder noch besser: Es ist dran. Denn der Band zeigt auch, dass an einer entscheidenden Nahtstelle der deutschen Geschichte bislang immer mit argen Simplifizierungen gearbeitet wurde. Das beginnt schon mit den gewaltigen Flüchtlingsströmen, die 1945 aus den vormals deutschen Siedlungsgebieten nach Westen strömten. Die Zahlen allein sind gigantisch: 4 Millionen Flüchtlinge gelangten auf das Gebiet der späteren DDR, allein 1 Million nach Sachsen. In ein Sachsen, in dem alle wichtigen Industriestädte zerbombt waren. Manche Flüchtlingstrecks waren gerade erst in Dresden angekommen, als die Stadt in den Bombenhagel geriet. Es kann also alles gar nicht so glatt gegangen sein damals, wie es oft in Geschichtsbüchern kolportiert wird.
Binnen Wochen mussten Verwaltungen Lösungen finden für die vielen Flüchtlinge, die nun auf einmal zusätzlich unterzubringen waren. Die Ernährungssituation war desolat. Die Landwirtschaft musste dringend wieder in Schwung gebracht werden. Dazu kam: Die meisten Männer im arbeitsfähigen Alter waren im Krieg gefallen oder noch in Gefangenschaft. Und da sollte nicht nur ein ganzes Land wieder auf die Beine kommen, sondern man sollte auch noch Millionen Menschen, die fast ohne Habe aus dem Osten geflohen waren, miternähren und integrieren?
Eine Herkulesaufgabe, die quasi auf die eh schon gestellten Aufgaben noch obendrauf kam: Entnazifizierung der Gesellschaft, Schaffen neuer Verwaltungsstrukturen, Wiederaufbau der Städte und Reparationsleistungen für die Sowjetunion.
Aber wie erforscht man so ein Themenfeld? Wie üblich, sagte sich die Forschergruppe und machte sich auf in die Archive. Da wäre sie wohl auf immer verschwunden, wenn sie sich nicht gänzlich auf Sachsen beschränkt hätte und auch hier noch einmal auf zwei exemplarische Kreise – Grimma und Bautzen. Schon hier wurde deutlich, was für ein Umbruch die Jahre ab 1945 bedeuteten. Nicht nur für die Flüchtlinge, die in Sachsens Dörfern untergebracht werden mussten. Eigentlich ein eigenes Thema, denn dadurch, dass sie binnen weniger Monate ihre angestammte Heimat verloren und praktisch hunderte Kilometer durch verstopfte Straßen zurücklegen mussten und mit der vorrückenden Front nach Sachsen kamen, hatten sie längst schon eine eigene Geschichte zu erzählen, waren erschöpft und von den Strapazen gezeichnet. Schon das ein Kraftakt, alle diese Menschen einigermaßen menschenwürdig irgendwo unterzubringen und in Städten und Dörfern einen Platz für sie zu finden.
Doch kaum waren die Meisten untergebracht, folgte schon die nächste große Umwälzung: die Bodenreform, bei der vor allem die großen alten Güter aufgeteilt und an Neubauern vergeben wurden. Darunter waren zwar viele altansässige Kleinbauern und Landarbeiter, aber auch einige tausend Umsiedler (wie sie genannt wurden) kamen zum Zug und konnten auf 5 bis 7 Hektar Land versuchen, wieder eine funktionierende Hofwirtschaft aufzubauen. Doch ohne Konflikte ging das alles nicht ab. Die “Neuen” wurden oft genug von den Alteingesessenen abgelehnt. Es gab Konflikte auf sozialer, materieller und auch auf sprachlicher Ebene. Und es schwelte gerade in den frühen Jahren stets die Hoffnung mit, die Vertriebenen könnten vielleicht doch bald zurückkehren können auf ihre alten Höfe.
Natürlich sind es am wenigsten die offiziellen Zeitungen und Zeitschriften der Zeit, die von den Schwierigkeiten diese konfliktreichen Prozesses erzählen. Manche Themen – wie das Thema der Flucht – schnitten sie selten bis nie an. Schon die verordnete Sprachwahl, die auch sehr konsequent verwendet wurde, erzählte davon, dass man nicht wirklich gewillt war, das Trauma von Flucht und Vertreibung zu benennen, geschweige denn aufzuarbeiten. Aus Flüchtlingen wurden Umsiedler und Neubauern. Und schon bald hörte man auch bei der Dokumentation der bei der Bodenreform vergebenen Parzellen auf, die Umsiedler gesondert zu erfassen.
Wobei natürlich das Thema Bodenreform eigene Studien wert wäre. Schon die von der Forschergruppe ausgewerteten Dokumente aus den Dörfern, Landratsämtern und Parteiarchiven erzählen von zahlreichen Konflikten, die auch ihre nachvollziehbaren Ursachen hatten. Gerade an Landwirtschaftsgerät und an Viehzeug für die einzelnen Bauernstellen mangelte es allerorten. Genauso fehlte es an tausenden Häusern, Ställen und Scheunen für die Neubauern. In einem richtigen Kraftakt mussten die Neubauernhäuser und -siedlungen binnen kurzer Zeit aus dem Boden gestampft werden. Da und dort wurde auch die Bausubstanz der alten Güter und Schlösser geopfert. Aber auch der berechtigte Widerstand der Gemeinden gegen den Abriss der Gutshäuser wird in den Akten sichtbar, denn sie wurden genauso dringend als Wohnraum, Schule, Kindergarten benötigt.
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Oft war es der schlechte Boden, der Neubauern scheitern ließ, oft auch das fehlende Material – vom Saatgut bis zur Milchkuh. Hunderte Neubauernstellen wechselten mehrfach den Besitzer. Und eine These der Autoren könnte durchaus zutreffen: Dass die Idee, die ersten landwirtschaftlichen Genossenschaften zu gründen, in dieser Zeit der Not entstand. Quasi als neuer, sozialistischer Ersatz für die zerschlagenen Güter, die eben nicht nur große Ausbeutungsbetriebe gewesen waren, sondern auch zentrale landwirtschaftliche Funktionen für die Dörfer erfüllten – von der Viehzucht bis hin zur Bereitstellung des Saatgutes.
Im Wesentlichen konzentriert sich das Buch auf die frühen Jahre von 1945 bis 1952, deutet nur an, wie die Geschichte dann Ende der 1950er Jahre mit der allumfassenden Kollektivierung der Landwirtschaft weiterging. Die amtlichen Berichte werden ergänzt um rund 60 Zeugnisse von Zeitzeugen, die erzählen, was sie konkret selbst erlebt haben. Und ein Kapitel widmet sich auch einer Handvoll Titeln aus der DDR-Literatur, in denen das Thema Flucht angedeutet oder ziemlich deutlich erzählt wurde. Für Letzteres stehen zum Beispiel Christa Wolfs “Kindheitsmuster” und Ursula Höntschs “Wir Flüchtlingskinder”.
Fremde Heimat Sachsen
Ira Spieker, Sönke Friedreich, Sax-Verlag 2014, 19,80 Euro
Thematisch überschneidet sich hier die Geschichte der Flüchtlingsfamilien natürlich auch mit den Umbrüchen der Bodenreform. Und einige der genannten Titel machen deutlich, dass sich zumindest Autoren – oft selbst mit einer Flüchtlingsgeschichte – auch in der DDR mit diesem Kapitel der eigenen Geschichte beschäftigten. Zuweilen mutet das ganze Material natürlich auch an wie ein vorsichtiges Hineinleuchten in ein Kapitel, das von Historikern bislang eher stiefmütterlich behandelt wurde. Was verblüfft, ist eher nicht die Sprachwahl der Zeit und der Konfliktreichtum der Akten, sondern das, was beiläufig miterzählt wird: Was für ein Kraftakt es für die Betroffenen war, diese Zeit zu meistern – mit kargsten Mitteln, begrenzten Ressourcen und einer Staatsmacht, die gerade begann, auch noch den kleinsten Teil der Wirtschaft zu reglementieren und zu beaufsichtigen.
Der Titel des Buches selbst ist wieder ein Spiel mit dem politischen Vokabular der Zeit, als man durchaus nicht geneigt war die “alte Heimat” der Flüchtlinge auf irgendeine Weise öffentlich zu thematisieren und dafür gern verkündete, sie hätten im der SBZ nun eine “neue Heimat” gefunden. Viele der im Buch erwähnten Lebensgeschichten deuten darauf hin, dass auch hier beides zutrifft: Viele der Ankömmlinge fanden im Lauf der Zeit tatsächlich dazu, die neue Heimat zu akzeptieren (ein Prozess, zu dem augenscheinlich sogar die Gründung von Genossenschaften erheblich beitrug), aber viele fühlten sich trotzdem dauerhaft fremd, gerade die Älteren, denen es logischerweise schwerer fiel, die Fäden zu ihrer verlorenen Heimat zu durchtrennen.
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