Es ist wieder diese komische Landesgrenze, diesmal die zwischen Sachsen und Thüringen, die dafür sorgt, dass man den Mann hierzulande kaum kennt: Wolfgang Nossen, 83, bis 2012 Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringens. So ein Abschied aus den Ämtern ist natürlich ein guter Anlass für ein Buch. Erst recht, wenn der Mann die 17 Jahre seiner Amtszeit immer genutzt hat, um im wahrsten Sinne des Wortes Tacheles zu reden.
Er hat es unentwegt getan – bei Gedenkveranstaltungen, Neueröffnungen, Preisverleihungen. Immer freundlich, immer deutlich. Immer mit dem Finger in der Wunde. Auch zu Zeiten, als auch thüringische Politik noch die Augen verschloss und so tat, als wäre da nichts, als würde der Rechtsextremismus sich nicht immer mehr radikalisieren. Thüringen – das ist auch Jena und damit das Herkunftsland der Drei aus der Zwickauer Terrorzelle: Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe. Zwickau hier noch einmal extra genannt, weil die sächsischen Verantwortlichen noch heute am liebsten den Kopf in den Sand stecken, als hätte man damit nichts zu tun. Und stattdessen lieber Prozesse anzetteln gegen die mutigen Demokraten, die sich den Nazi-Aufmärschen – etwa in Dresden entgegen stellen.
Es gibt eine Wortfügung im Buch, die taucht in Nossens Reden immer wieder auf: “wehrhafte Demokratie”. Und er meint damit nicht all die sich wegduckenden Innen- und Justizminister, die die Feinde der Demokratie lieber links suchen. Oder genauer: links verorten. Denn in ihren Statistiken wird auch der friedliche Bürgerprotest gegen Nazi-Aufmärsche zu einem Zahlenwerk unter der Überschrift “Linksextremismus”. Da werden Politiker von Grün bis Rot vor den Kadi zitiert, Gewerkschafter und Pfarrer – wie der Jenaer Jugendpfarrer König. Den Nossen achtet als einen der Aufrechten, die in Thüringen das Wort gegen die braunen Umtriebe erhob, als auch die Thüringer Regierung noch so tat, als wäre da nichts. Und so einen stellt man in Sachsen vor Gericht. So schnell wird ein Buch zum Spiegel.
Wolfgang Nossen hat auch schon vor 2001 Tacheles geredet, weil er mit seiner Jüdischen Gemeinde natürlich von Anfang an im Brennpunkt stand. Die alten und die neuen Nazis ändern ja ihre Feindbilder nicht. Sie greifen immer wieder das an, was sie nicht begreifen. Jüdische Synagogen zum Beispiel – wie 2001, als sie einen Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge verübten. Es war nicht die erste, die Nossen brennen sah. Plastisch schildert er im Interview mit Kerstin Möhring, wie er 1938, als Sechsjähriger die Synagoge brennen sah in seiner Heimatstadt Breslau.Das Interview ist ein richtig langes. Die beiden haben sich Zeit genommen, 100 Seiten lang, um das Leben, die Welt und die vielen Umwege von Wolfgang Nossen aufzudröseln, der als einer der wenigen Breslauer Juden das Nazi-Reich überlebte. Beim Beginn einer Ausreise nach Südamerika blieb seine Familie in Erfurt hängen, wo auch wieder eine neue jüdische Gemeinde entstand aus den Wenigen, die die Sho’a überlebt hatten. Nossen bleibt konsequent beim Begriff Sho’a und hält den von Elie Wiesel geprägten Begriff Holocaust für falsch, wenn man über das spricht, was der nazistische Verwaltungsapparat da zwischen 1933 und 1945 organisiert hat.
Und auch in der DDR war die Zukunft der Juden überschattet, denn Stalin und sein Apparat waren genauso antisemitisch wie die Nazis. 1951 bis 1953 wurde der Ostblock mit lauter Schauprozessen gegen Juden überzogen. In der DDR gab es eine regelrechte Enteignungswelle, die Anfang 1953 tausende jüdischer Bürger zum Verlassen des Landes brachte. Zu ihnen gehörte auch der junge Wolfgang Nossen, der nach Israel auswanderte und dort drei weitere Kriege erlebte – diesmal als Soldat der israelischen Armee. Oder genauer: als Reservist. Er kennt das Land aus eigenem Erleben, kennt seine Gefährdungen und sieht natürlich auch die Diskussion um die “Palästinafrage” in deutschen Medien mit anderen Augen.
Auch weil er um all die Studien weiß, die in den letzten Jahren belegten, dass sich hinter der Israelkritik in Deutschland auch nach wie vor ein schwelender Antisemitismus versteckt, der eben nicht nur “rechts” zu verorten ist, sondern auch die “Mitte” der Gesellschaft prägt. Manchmal blitzt er öffentlich auf, wenn etwa hochdekorierte Großdichter von der “Auschwitzkeule” palavern und das Publikum nicht mal die Miene verzieht.
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Es gibt eine Stelle Buch, in der deutlich wird, woran es liegt. Es ist der Chef der Thüringer Linksfraktion, Bodo Ramelow, der hier deutlich ausspricht, was Nossen immer wieder meint, wenn er seinen Zuhörern Bernt Engelmanns “Deutschland ohne Juden” ans Herz legt. “Denn tatsächlich geht es nicht um die Verteidigung jüdischen Lebens als etwas Fremdes”, sagte er 2013, als Nossen aus seinem Amt verabschiedet wurde. “Für jüdisches Leben in Deutschland müssen wir Deutschen dankbar sein, denn genau hier sollte es ein für allemal vernichtet werden. Ein Teil unserer Kultur – und das ist der intellektuelle Prozess, den wir leisten müssen, zu verinnerlichen, dass ein Teil unserer Kultur im Namen Deutschlands endgültig vernichtet werden sollte.”
Nichts anderes wollen auch die modernen Nazis. Und genau deshalb ist das Wort “Scham” so falsch, das christliche Politiker so gern verwenden, wenn sie ihrer Betroffenheit bei Anschlägen auf jüdische Friedhöfe, Kulturzentren, Synagogen Ausdruck geben wollen. Als hätten wir als Mehrheitsgesellschaft nur mal wieder eine schützenswerte verfolgte Minderheit bei uns aufgenommen und nicht schützen können gegen die Kulturfeinde unter uns. Aber die meinen mit ihren Anschlägen gegen Juden, Linke, Homosexuelle usw. immer nur ein Symbol. Tatsächlich wollen sie mehr vernichten als nur die Minderheiten, die sie gerade auf ihre Schießscheiben gesetzt haben. Und Wolfgang Nossen ist einer, der es all die Jahre immer wieder erzählt hat. Nur verantwortliche Politiker, Polizisten und Verfassungsschützer wollten es nicht begreifen: Es ging immer gegen unsere Demokratie. Man kann es auch Kultur nennen. Im Grunde ist es eins: Eine offene, lebendige Gesellschaft, die dadurch reicher wird, dass alle in ihr mitwirken und Teil haben.Und genau diese Demokratie war immer das Wichtigste, was die Nationalisten von 1919 an zerstören wollten und was ihre Nachkömmlinge auch heute wieder wollen. Und sie bekommen immer dann Zulauf, wenn die gewählten Vertreter der Demokratie sich wegducken oder gar ihre Argumente übernehmen aus Angst vor “Volkes Stimme”. Die Schreihälse behaupten gern, sie seien das Volk. Aber sie sind es nicht. Sie kennen nur Einschüchterung, die Verbreitung von Angst und Schrecken als Mittel, ihre eigene Angst vor einer Gesellschaft auszutoben, die ihre engen Vorstellungen von “Nation” übersteigt.
Und Nossen war keineswegs stolz, als alle Welt im Herbst 2011 erfuhr, dass er die ganze Zeit recht gehabt hatte. Eher enttäuscht, dass er so dermaßen recht gehabt hatte und gerade die Verantwortlichen, die hätten gegensteuern können, so beharrlich weggehört hatten.
Der Band vereint – zusätzlich zu dem langen Interview – Nossens Reden in umgekehrter zeitlicher Reihenfolge. Der Leser liest sich quasi zum Anfang vor, als Nossen nach seiner Wahl zum Landesvorsitzenden gerade begann, mit den Leuten Tacheles zu reden. Heute sind ihm Viele dankbar dafür, dass er sich nicht hat einschüchtern lassen. Und auch nicht entmutigen. Aber auch das versteht man spätestens, wenn man sein Grußwort zur Eröffnung der Ausstellung “Jüdischer Widerstand” von 2002 gelesen hat.Das war eine Ausstellung, die bundesweit zeigte, dass sich die Juden in Europa eben nicht einfach “abschlachten ließen wie die Schafe”, sondern – vom Warschauer Getto bis zur französischen Resistance – mit der Waffe in der Hand gegen die Nazis kämpften.
Der Mann, der Tacheles redet: Wolfgang Nossen
Kerstin Möhring, Salier Verlag 2014, 14,90 Euro
Jüdische Einheiten gab es sowohl in der US Army als auch in der Sowjetarmee. Sie waren mit dabei, als Deutschland befreit wurde. “Nicht Gäste oder Bittsteller sind wir in Deutschland. Das Blut unserer Besten hat uns das Heimatrecht in diesem Lande erkämpft. Nicht Betroffenheit schuldet uns Deutschland, sondern Respekt und Anerkennung für diesen Dienst.”
Aber dass die deutsche Republik damit so ihre Skrupel hatte, ist eine eigene Geschichte, die von Nazi-Karrieren im Nachkriegsdeutschland erzählt. Da kommt dann dieses Gesäusel von “Scham”, das so falsch klingt, wenn eine Demokratie beweisen soll, dass sie wehrhaft sein kann gegen ihre Feinde.
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