Otto Hölder? Muss man den kennen? - Mathematiker werden gleich sagen: Kennt doch jeder. Hölder-Ungleichung, Hölder-Raum, Jordan-Hölder-Theorem, Konzept der Faktorgruppe. Der Mann hat sich tief eingeschrieben in die Annalen der Mathematik. Und in Leipzig war er auch. Er ist sogar hier gestorben. Sein Grabstein steht auf dem Südfriedhof. Und seine Enkelin Birgit Staude-Hölder hat sich jetzt richtig viel Arbeit gemacht.
Sie hat alle seine Briefe an die Eltern aus den Jahren 1878 bis 1887 transkribiert. Ihr Vater hatte die Briefe seines Vaters aufbewahrt. Der hieß Ernst Hölder, war Ottos ältester Sohn und wirkte ebenfalls von 1946 bis 1958 als Mathematikprofessor in Leipzig.
Nach Leipzig kam Otto Hölder erst nach einer langen Tour durch deutsche Universitäten. 1899 bekam der 1859 Geborene hier eine Professur. Felix Klein hatte ihn schon 1884 locken wollen, wohl wissend, dass er dafür die Berufungspolitik der altehrwürdigen Universität würde auf den Kopf stellen müssen. Das traute ihm dann auch der junge Hölder nicht zu und nahm lieber die Chance wahr, in Göttingen als Privatdozent in den Lehrbetrieb einzusteigen.
In Leipzig machte Hölder später sogar Politik. Wider Willen, denn der auf Ausgleich bedachte Mann war ausgerechnet im verflixten Jahr 1918 Rektor der Universität. In der großen Jubiläumsausgabe der Universität schreibt Ulrich von Hehl über ihn: “Es ist für die allgemeine Verunsicherung kennzeichnend, dass Rektor Hölder, eine stille und feinsinnige Gelehrtennatur, dem die rauhen Stürme des Tages ersichtlich zusetzten, sich nicht etwa auf die stets betonte parteipolitische Neutralität der Universität und ihre hergebrachte akademische Freiheit berief, sondern ängstlich beim Arbeiter- und Soldatenrat anfragte, ob der Erlass auch für die Universität gelte, die nicht über eine rote Fahne verfüge.” Wer fragt, bekommt Antworten: Der Leipziger Arbeiter- und Soldatenrat ordnete die Hissung der Fahne an. Die zum größten Teil bürgerlichen und konservativen Studenten, von denen die meisten ebenfalls im Krieg gewesen waren, reagierten empört und holten die rote Fahne wieder runter. So schnell kann ein Rektor zwischen allen Stühlen sitzen.Politik war einfach nicht Seins. Und damit ist Hölder wahrscheinlich mehr als nur ein sehr typischer Vertreter deutscher Gelehrsamkeit.
Typisch war auch sein Einstieg in die Wissenschaften. Und genau das macht den Kern dieser Briefe aus, die mit dem Jahr 1878 einsetzen, als Hölder sein Studium in Berlin begann, noch etwas orientierungslos, etwas unschlüssig, ausprobierend, was damals an deutschen Hochschulen noch möglich war. Irgendwie wussten damalige Verantwortliche noch, dass ein erfolgreiches Abitur noch lange nicht bedeutet, dass der Erfolgreiche schon seine Bestimmung gefunden hat. Deswegen nutzten viele Studienanfänger die ersten Vorlesungen auch, um sich zu orientieren. Nicht nur, ob der Stoff sie interessierte, sondern auch, ob sie mit dem Vortragenden gut zurecht kamen. Und so sind Hölders Briefe auch Briefe eines Suchenden, der auch noch nicht so recht weiß, ob er sich in den vorgetragenen Stoff überhaupt würde einarbeiten können. Nöte, die jeder Studierende kennt, der sich wirklich den Herausforderungen stellt. Und mit Kronecker und Weierstraß sind es zwei der berühmtesten Mathematiker seiner Zeit, die ihn schon in Berlin prägten.
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In seinen Briefen an die Eltern schildert Hölder den Vorlesungsbetrieb, die Suche nach einer preiswerten Unterkunft, die Sorgen um bezahlbaren Mittagstisch und ordentliche Wäsche. Es gibt in einem der Briefe eine kleine Liste mit der Aufstellung seiner Kleidungsstücke. Es ist verdammt wenig, wenn man bedenkt, dass der junge Mann auch fleißig ins Theater ging, Besuche machen musste, weite Strecken zu Fuß durch Berlin lief und einige recht scheußliche Winter erlebte. Natürlich stecken in den Briefen auch etliche Bitten um Geldzusendungen. Denn Hölder ging es wie vielen heutigen Studierenden auch: Er war fast bis zum 30. Lebensjahr auf finanzielle Unterstützung seines Vaters angewiesen. Erst in Göttingen, der letzten Station in diesem Buch, würde er als Privatdozent erstmals ein Stipendium des preußischen Staates bekommen.
Da er die Mathematik als Studienfach gewählt hatte, war von Anfang an klar, dass seine Zukunft entweder an einem Realgymnasium oder im akademischen Lehrbetrieb stattfinden würde. Beides damals ohne Titel nicht zu haben, so dass dem bestandenen Examen gleich noch die Doktorarbeit folgte und dieser dann die Habilitation in Göttingen, die ihm die Arbeit als Privatdozent ermöglichte. Was auch noch ein Hungerjob war, denn Einnahmen hatte er damit nur, wenn seine angebotenen Kurse auch belegt wurden und die Studenten auch ihren Beitrag dafür entrichteten.Dass die Wahl des anspruchsvollen Mathematikstudiums in Berlin nicht die falsche gewesen war, zeigt schon die frühe Anerkennung durch ältere Mathematikerkollegen, als seine ersten Arbeiten im Druck erschienen. Dass Leipzig 1884 in dieser Briefsammlung auftaucht, hat mit seiner Suche nach einem möglichen Angebot für die Zukunft zu tun. Und bei Felix Klein am Mathematischen Institut in Leipzig anzudocken, das wäre ein Traum gewesen. Aber Hölder wusste genau, dass er für diesen Traum mit 25 Jahren noch zu jung war. Auch in Göttingen, wo er dann tatsächlich den Einstieg schaffte, musste er weiter warten.
Was der Briefband nicht mehr erzählt, ist sein Nervenzusammenbruch von 1889. Schon seine Studienjahre und die Zeit als Privatdozent sind immer wieder von Krankheiten überschattet. Wobei er auch gegenüber den Eltern zumeist lieber nur über die körperlichen Probleme schrieb als über die Sorgen, die ihn quälten. Zu denen gehörte auch die schlichte Tatsache, dass er als schlecht verdienender Privatdozent auch für die Göttinger Professorentöchter nicht als Heiratspartie in Frage kam. Man kann sich die Situation gut vorstellen: Da macht sich ein junger Mann in der europäischen Mathematikerszene einen Namen, wird von den Koryphäen seines Fachs eingeladen – und muss sich, als eine außerordentliche Professur in Göttingen im Gespräch ist, sagen lassen, dass er dafür mit 28 Jahren einfach zu jung ist.
Man staunt schon, wie die heutigen Zeiten denen vor 130 Jahren ähneln. Eine außerordentliche Professur erhielt Hölder erst 1890 in Tübingen.
Seine Briefe erzählen sehr eindrücklich vom Leben als Wissenschaftler im Wartestand, von seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen, seinem Hofmachen, um sich an den entscheidenen Hochschulen des Landes eine Tür offen zu halten, wohl wissend, dass es die alten Lehrstuhlinhaber sind, die bei der Wahl des Nachfolgers ein Wörtchen mitzureden haben. Einen gewissen Rückhalt findet er in der Burschenhaft, der er angehört, der “Normannia”. Man reist mit ihm in unbeheizten Zugabteilen durchs Land, erlebt heruntergewirtschaftete Hosen als Malheur, erfährt aus den Briefen auch, wieviele Briefe und Postkarten er sonst noch so schrieb an Kollegen, Vettern, Onkel, Tanten, wie schrecklich dünn die Tinte in Berlin ist und wie der Verlust von Regenschirmen zu einem Drama wird. Und wie sehr es ihn quält, wenn er das Gefühl hat, nicht genug gearbeitet zu haben.
Otto Hölder, Briefe an die Eltern 1878 bis 1887
Stefan Hildebrandt, Birgit Staude-Hölder, Edition am Gutenbergplatz 2014, 28,50 Euro
Birgit Staude-Hölder hat die Briefe nicht nur mit Anmerkungen versehen, sondern auch mit einem sehr umfangreichen Glossar, in dem auch die Orte und Personen noch einmal erläutert werden, mit denen Hölder in den zehn Jahren zu tun hatte. Und für die Edition am Gutenbergplatz war natürlich nicht nur Hölders Begegnung mit Felix Klein in Leipzig besonders interessant, sondern auch Hölders Besuch im Teubner-Verlag, wo dem jungen Mathematiker praktisch das ganze Haus gezeigt wurde. Immerhin war es der führende Wissenschaftsverlag Deutschlands. Und auch wenn Mathematiker keine “verkaufsträchtigen” Titel schrieben, war der Verlag dennoch stolz, die besten Autoren aus ihren Spezialgebieten in seinen Katalogen zu haben. Eben auch Otto Hölder.
Stefan Hildebrandt, Birgit Staude-Hölder “Otto Hölder, Briefe an die Eltern 1878 bis 1887”, Edition am Gutenbergplatz Leipzig, Leipzig 2014, 28,50 Euro
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