Als Jan Flieger 1985 im Mitteldeutschen Verlag seinen Krimi "Der Sog" vorlegte, wussten auch seine Leser, dass er ein Tabu gebrochen hatte: Er hatte eine Seite der DDR-Wirtschaft gezeigt, die es so nicht geben durfte: Betrug im Neuererwesen, ein Kartell der Absahner, die sich mit getürkten Verträgen und Abrechnungen gegenseitig die Prämien zuschoben und dabei für DDR-Verhältnisse schweinereich wurden.

“Nur ich konnte dieses Buch schreiben”, erklärt Jan Flieger jetzt im Nachwort des Buches, das der Leipziger fhl Verflag nun neu aufgelegt hat. Mit dem Untertitel, den der S. Fischer Verlag seinerzeit für die Westausgabe des Krimis als Titel gewählt hatte: “Ein tödliches Ultimatum”.

Dieses Ultimatum ist Teil der Rahmengeschichte, die Flieger 1985 gewählt hatte, um die eigentlich brisante Geschichte zu verpacken. In dieser Rahmenhandlung geht es um Franziska, die Frau des “Helden” Bennewitz, die ihr Wissen um die Beteiligung von Bennewitz am Betrugskartell nutzt, ihn in einer Liebesaffäre zu erpressen. Karin oder ich, heißt ihre Forderung. Und wenn Bennewitz nicht spurt, fliegt er eben auf. Auf das, was Bennewitz und seine Kumpane da in der Leitung ihres Betriebes treiben, stehen lange Haftstrafen. Die Drohung ist perfekt. Und aussteigen kann er nicht. Denn das Kartell der Absahner funktioniert nur, wenn alle dicht halten. Wenn auch nur einer schwatzt, sind alle mit dran. Die Staatsmacht lässt nicht mit sich spaßen.Doch was Bennewitz scheinbar erst seit diesem Moment, in dem Franziska ihn vor die Entscheidung stellt, Bauchschmerzen zu bereiten scheint, ist, wie sich bald herausstellt, das Problem seines Lebens. Er hat sich immer treiben lassen. Oft genug waren es Frauen und vermeintliche Freunde, die die wichtigen Entscheidungen in seinem Leben getroffenen haben. Er weiß es selbst. Und das Unbehagen, das ihn quält, begleitet ihn schon länger. Begleitet ihn seit dem ersten Tag, an dem er sich auf das windige Kartell einließ. Und es war nicht ganz zufällig die ach so katzenäugige Franziska, die ihn dazu überredete weiter mitzumachen.

Kapitel für Kapitel zieht Flieger die Haut von dieser Zwiebel. Und was zum Vorschein kommt, ist kein Gestrauchelter, nicht einmal ein Getriebener, auch wenn dieser Bennewitz schon lange nicht mehr das Heft des Handelns in der Hand hat. Solche Kartelle entwickeln ihr Eigenleben. Und sie suchen sich die Akteure, die in dieses Spiel passen. Die heutige Legendenbildung über das Leben in der DDR und den allseits gepflegten Tauschhandel geben ein sehr trügerisches Bild über diese Idylle.

Und sie verklären es, ganz so, als sei das ganze Volk nur mit dem Tauschen von Autoersatzteilen und “blauen Fliesen” beschäftigt gewesen. Doch auch in der DDR brauchte es für Geschäfte jener Dimension, wie sie Bennewitz, Pittwein, Röbel und Konsorten eingefädelt haben, echte kriminelle Energie und eine Menge menschlicher Abgebrühtheit. Oder sollte man besser sagen: Abgestumpftheit?

Und das ist das Verblüffende an dem Buch – und das Erschreckende: Die Szenerie erinnert fatal an das, was heutzutage aus den Korruptionsaffären um Waffendeals oder dubiose Banken- und Staatsgeschäfte ruchbar wird. Es sind dieselben aalglatten Typen, die auch bereit sind, über Leichen zu gehen. Und es ist dieselbe Welt der banalen Anspruchshaltungen. Seite um Seite blättert man um und wartet auf den Punkt, an dem man auch nur für eine der von Flieger geschilderten Gestalten Verständnis aufbringen könnte, dieses bisschen an Mitgefühl, das einen mitfiebern ließe. Ist dieser Bennewitz wenigstens ein lebenslustiger Mensch? Ein besonderer Phantast? Ein Charmeur? Warum fliegen die Frauen auf ihn? Oder sehen sie alle nur den formbaren Klops in ihm, der sich fügt und dann irgendwie das wird, was Frauen sich so unter “erfolgreichen Männern” vorstellen?

Aber nicht mal diese Franziska, die glaubt, ihren Bennewitz beherrschen zu können, erzeugt eine Spur von Herzlichkeit. Und selbst das kommt einem vertraut vor. Auch das war seinerzeit Teil dieser Leck-mich-mal-Atmosphäre, das am Ende die kleinen Malocher auf die Straßen trieb und Plakate in den Leipziger Montagshimmel heben ließ, die eigentlich nur eins forderten: Weg mit dieser Bagage.Dass dieselben Typen unter neuen Vorzeichen schon wenig später fröhlich weiterfeiern würden, konnten sie vielleicht nicht ahnen. Wenn seit über 20 Jahren nun von “Sachsensumpf” die Rede ist, dann hat das genau damit zu tun, mit Seilschaften, die sich grenzüberschreitend gefunden haben, die sich ihre Scherflein sicherten und bis in Justiz und Politik hinein ihre Netze auswarfen. Korruption nennt man das. Und man ahnt nur, wie schwer dem beizukommen ist. Das Kartell zwingt zum Schweigen. Wer zu reden droht, spielt mit dem Leben.

“Der Sog” war schon bei Erscheinen ein Buch über eine Parallelgesellschaft, die das Land genauso moralisch zerfraß wie es von der anderen Seite her die Arbeit des allwaltenden Geheimdienstes tat. Dass Bennewitz Alpträume hat und elende Magenschmerzen, man gönnt es ihm. Selbst unter der Lupe, die Jan Flieger benutzt, erscheint er nicht groß, nicht tapfer, kein bisschen bemitleidenswert. Am Ende ist es einem sogar egal, ob er nun den Telefonhörer in die Hand nimmt und die Truppe selbst anzeigt. Nicht mal dazu hat er das Zeug.

Und kommt einem auch deshalb so seltsam vertraut vor. Als wäre er nie in den Knast gewandert, sondern hätte einfach seinen schlecht sitzenden Anzug gegen ein anderes Stück in Managerblau oder Grau eingetauscht und diensteifrigst weitergemacht: Jawohl, Herr Pittwein. Wird gemacht, Herr Pittwein, keine Frage Herr Pittwein. Ein ganz tiefer Kotau, eine Pille gegen das Sodbrennen, und es wird weitergemacht mit der Selbstbedienung. Und da solche Leute keinen Charakter haben, den sie verlieren könnten, sind sie immer da, wo man sie suchen muss: An den entscheidenden Stellen, wo man sich schamlos bedienen kann.

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Der Sog
Jan Flieger, fhl Verlag Leipzig 2014, 10,00 Euro

Was Flieger da 1985 schon gezeigt hat und was beim Wiederlesen so verblüfft, ist: wie ähnlich sich diese beiden Gesellschaften eigentlich schon waren. Und wie sehr Typen wie Bennewitz und Pittwein und Franziska bestimmen, wohin sich alles entwickelt. Sie haben keine Ideale, keine Visionen und auch keine echten Gefühle. Nur klar in Geld bezifferbare Vorstellungen von dem, was sie wert sind. Und wie man weiß, gibt es bei Geld keine Grenzen – keine moralischen und keine des Genug. Es sind diese Gestalten, die unsere Gesellschaften aushöhlen und mürbe machen. Manchmal sieht man sie und erschrickt. Meistens sieht man sie nicht. Und sollte noch viel mehr erschrocken sein.

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