Je mehr Bücher der Verlag Voland & Quist aus dem südeuropäischen Literaturraum veröffentlicht, umso erstaunlicher werden die Ähnlichkeiten. Die städtebaulichen, die gefühlsmäßigen, die alltäglichen. Dass Belgrads Vororte den ostdeutschen so erstaunlich ähneln, ist ja kein Zufall. Aber dass einem die Heldinnen und Helden aus den kroatischen, serbischen und bosnischen Romanen so vertraut vorkommen, das kann kein Zufall sein. Das ehemalige Jugoslawien ist nicht so fern, wie es Medien gern darstellen.

Auch wenn uns diverse Politiker, Heerführer und Regierungschefs peinlich fremd vorkommen. So was kann es in “westlichen” Demokratien niemals geben. Das ist etwas Uraltes, Primitives, das sich da im Jugoslawienkrieg austobte, all diese Kleinst-Nationalismen und diese Chauvinisten der Macht … undenkbar.

Aber die im literarischen Sinn durchaus jungen Autoren, die Voland & Quist in seiner Reihe “sonar” veröffentlicht, erzählen etwas Anderes. Sie gehören natürlich nicht in die bei deutschen Feuilletonisten so beliebte Kategorie “Jungstar”. Zumeist haben sie schon eine Menge Leben erlebt, den Krieg und seine Folgen sowieso, all diese kleinnationalistischen Veränderungen. Etliche haben sich auch als kritische Journalisten einen Namen gemacht, so wie der 1974 in Sarajevo geborene Andrej Nikolaidis. Heute die Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina. Nikolaidis aber ist Kind montenegrinisch-griechischer Eltern und lebt heute in Montenegro und wurde bekannt durch Anti-Kriegs-Reportagen und bedingungslose Texte gegen Nationalismus und für Menschenrechte.Seinen 2009 erschienenen Roman “Die Ankunft” kann man – auf den ersten Blick – in die große Rubrik “Weltuntergänge” einordnen. Beinah zumindest. Denn was in diesem seltsamen Juni 2009 in der montenegrinischen Hafenstadt Ulcinj passiert, kann den Leser schon entmutigen. Alle Nachrichtenkanäle sind voll mit Schreckensmeldungen von Erdbeben, Überschwemmungen, zusammenbrechenden Infrastrukturen. Und alles, was in Ulcinj passiert, scheint dazu zu passen: Mitten im Juni beginnt es zu schneien und das Wasser der Adria dringt unbarmherzig bis in die historische Altstadt vor.

Die Versorgung der Stadt scheint schon vor Tagen zusammengebrochen zu sein. Die Tankstellen haben keine Vorräte mehr, Geschäfte und Cafés werden geplündert. Und mittendrin versucht ein kleiner Privatdetektiv, noch zwei verzwickte Mordfälle zu lösen. Ein bisschen möchte er sein wie Raymond Chandlers Detektiv Philipp Marlow. Seine Stimmung ist ganz ähnlich. Er hat genug gesehen, wie eine Welt tickt, in der die Politik in die Hände korrupter Karrieristen kam, wo eine Hand die andere wäscht und einer nur genug Bestechung zahlen muss, damit die Polizei Mordfälle zu den Akten legt oder Gerichte zwei Augen zudrücken.

Der Vorteil all dieser abgewrackten Typen vom Typ Marlow: Sie müssen niemandem mehr etwas beweisen. Die Polizei ist sowieso kein Partner, außer wenn man dort ein paar alte Kumpel als Tippgeber hat. Und die meisten Verbrechen verlaufen nach uralten Mustern. Man muss nur die Menschen kennen und all ihre Abgründe und Vorurteile. Man zieht den Auftraggebern schon mal die wichtigsten Informationen aus der Nase, schnüffelt ein bisschen im Umfeld der Opfer. Und dann muss man nur noch die Konsequenz haben, hinzufahren zu den zumeist jämmerlichen Tätern und ihnen ihre Geschichte aus dem Kreuz leiern. Und dann kann man immer noch anrufen und dem Auftraggeber sagen, dass alles in Ordnung ist. Die meisten Leute wollen ja eh nur wissen, dass alles “seine Ordnung” hat, dass es irgendwie so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit gibt. Es gibt eine hübsche Stelle im Buch, da vergleicht sich der durchaus trinkfreudige Detektiv auch schon mal mit Gott, der am Ende aller Tage alle Geschichten zu Ende bringt, den Guten und den Schlechten ihre Motive erklärt und ihnen den Platz zuweist, der ihnen gebührt – den einen im Himmel, den anderen in der Hölle. Strafe muss sein.

Natürlich kommt in so einem Buch mit Endzeitstimmung Gott zumindest am Rande vor. Wenn eine Welt so dermaßen aus dem Lot gerät und selbst die Medien jede Contenance verlieren und ihre Nachrichten nur noch mit Untergangsmeldungen aus allen Ecken der Welt vollstopfen, dann ist die Zeit der Endzeitpropheten gekommen, dann werden uralte Prophezeiungen ausgegraben und irgendeine wird jetzt schon irgendwie zutreffen. Man kann auch alles, was passiert, unter der Schablone so einer uralten Endzeitlegende interpretieren.Das tut der Sohn des Detektivs, den er vor ungefähr einem Vierteljahrhundert mal so nebenbei gezeugt hat während der Aufklärung eines Falles, in dem die Auftraggeberin auch bereit war, mit Liebe zu bezahlen. So kommt dann auch ein eiskalter Schnüffler noch zu einem Sohn, der dann per E-Mail aus der Irrenanstalt erklärt, wie eine uralte Legende um einen Sektierer, der einst in Ulcinj zu Gange war, mit den blutigen Morden der letzten Tage und dem zeitgleichen Brand der Stadtbibliothek zusammenhängt. Wenn Bücher brennen, muss es ja ein Geheimnis geben. Und irgendwelche dunklen Geheimbünde müssen am Werk sein.

Dass es doch ein bisschen anders ist, weiß einer vom Schlage Marlowes natürlich. Deswegen gleitet die Geschichte auch nicht wirklich in den Bereich der Verschwörungs-Geschichten ab. Aber Nikolaidis zeigt recht plastisch, wie dicht unter der Oberfläche diese Geschichten liegen, wenn Menschen ihr eigenes irrationales Handeln zu erklären versuchen. Dass die Haut der Zivilisation, der schönen Täuschung, sehr dünn ist, weiß einer, der wie Nikolaidis im zerfallenden Jugoslawien aufgewachsen ist. Es ist eine Geschichte, die durchaus auch für den Rest Europas gilt. So passt das Buch erstaunlich in diesen fast esoterischen Europa-Wahlkampf, in dem die nationalistischen Töne auf einmal wieder mit professoraler Kaltschnäuzigkeit verkündet werden, als könnte man es sich leisten, dieses sensible Konstrukt einfach mal hinwegzufegen, ohne die schlummernden Geister zu wecken.

Aber die Geister schlummern nicht, sondern feiern schon ihre kleinen Partys. Und die hellwachen Autoren aus dem ehemaligen Jugoslawien wissen, wie schnell sie wieder auf den Märkten tanzen und nach der Macht greifen und wie sie die Köpfe korrumpieren. Ein Tag wie dieser, den selbst das Radio als allerletzten verkündet, als wäre das eine belastbare Nachricht, reißt selbst den Freunden in der Lieblingskneipe die Maske vom Gesicht. Und eigentlich wartet am Ende des Tages nur noch ein ordentliches Besäufnis auf diesen untröstlich enttäuschten Marlowe-Verschnitt, den seine Arbeit zumindest eines gelehrt hat: Die Wahrheit wollen die meisten Leute gar nicht kennen. Im Gegenteil.

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Die Ankunft
Andrej Nikolaidis, Voland & Quist 2014, 16,90 Euro

Selbst wenn ihr Auftrag anders klingt, ist ihr Wunsch im Grunde jedes Mal nur: dass sie mit den grausamen Fakten nicht in Berührung kommen müssen, sondern der Detektiv ihnen eine gute Geschichte liefert, die die Welt wieder ins Gleichgewicht rückt. Und die das eigene Gefühl bestätigt, dass die Erklärungen für alles, was man nicht fassen kann, doch ganz einfach sind und zu den alten, bekannten Geschichten passen.

Aber was tut man am Tag danach, wenn die Welt doch nicht untergegangen ist?

Eine gute Frage. Aber an dieser Stelle steht dann die Liste mit Musiktiteln, die Nikolaidis beim Lesen zu hören empfiehlt. Schön düster und schwermütig, passend zur Winterstimmung mitten im Juni an den dunklen Wellen der Adria.

www.voland-quist.de

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