Woraus ist eigentlich der Stoff, aus dem Gedichte gemacht werden? Und was sind Gedichte? Es sollen ja ein paar Definitionen in den Schulbüchern stehen. Da wird meistens irgendwo zwischen lyrisch, rhythmisiert und gereimt herumgeeiert. Poesie wird als Kriterium genannt. Und es ist nichts gesagt und nichts begriffen. Nichts über unsere Sprache und die schlichte Tatsache, dass der Zauber in der Sprache steckt. Man muss ihn nur zu entdecken wissen.
Das könnte, wenn es denn gewollt wäre, die Arbeit im Literaturunterricht sein. Aber dazu müsste Schule wieder ein Projekt werden, das Menschen neugierig macht und bereit, ihre Welt zu erkennen. Das ist jedoch nicht das Ziel deutscher Schulen. Leider.
Aber auch das trägt zur Verwirrung bei. Wer seine Sprache nicht kennt und nicht weiß, was sie tut und wie sie funktioniert, der weiß nicht, was sie alles anrichten kann. Da muss man nicht einmal die hingeschwurbelten Reden simpler Politiker nehmen. Man kann auch die wattigen Texte aus dem Feuilleton deutscher Zeitungen nehmen, wie es Lydia Daher getan hat. Das sind natürlich die Zeitungsteile, die Autoren öfter lesen (müssen) als andere Leute, denn eine wohlwollende oder eine missgünstige Besprechung können über Erfolg oder Misserfolg eines Buches entscheiden. Selbst dann, wenn die Texte gespickt sind mit Floskeln und sperrigen Begriffen aus der Kunsttheorie. Der gewöhnliche Leser hört dann meistens auf zu lesen und sucht sich spannendere Texte.Aber Lydia Daher, die bei Voland & Quist schon mit zwei bezaubernden Gedichtbänden auf sich aufmerksam machte, hat etwas entdeckt: Auch in diesen Texten steckt alles, was man zu einem guten Gedicht braucht. Tatsächlich braucht man dazu ja nur Worte. Und hier stehen welche, manchmal auch einige, die von ganz allein lebendig sind, wenn man sie lässt, und die ihre Schönheit wieder entfalten, wenn man die Schere nimmt und sie ausschneidet. Hier eins, da zwei, dort ein halbes, da unten sogar eine ganze Zeile, die es in sich hat. Da hat der Artikelschreiber wohl zitiert aus einem Gedicht: “ist es aus mit der Unschuld.” Das reizt ja Dichter und Dichterinnen immer wieder: Die Zeilen der anderen neu zu bearbeiten, herumzudrehen wie Edelsteine und ein neues Funkeln zu entdecken.
Und was macht Lydia Daher daraus? – “Welt / unter / wo Wörter sind / ist es aus mit der Unschuld.”
Insgesamt so, diese Welt: Die herrlich melancholischen Gedichte von Lydia Daher
Man könnte friedvoll ersaufen …
Lydia Daher: Kein Tamtam oder Das Schwemm-Land der Traurigkeit
Augsburg muss schrecklich sein …
Die Urängste des 20. Jahrhunderts in uns: Monster Poems
Nicht nur politisch war das 20. Jahrhundert …
Die Welt als Fragment und Collage: Michael Fiedlers “Geometrie und Fertigteile”
Der Leipziger Poetenladen …
So kurz können Gedichte sein, so treffend. Dazu eine Bildcollage, und man kann es sich an die Wand hängen. Oder in ein Buch kleben. 101 solcher Bild-Gedicht-Collagen sammelt dieser Band, von über 140, die binnen eines Jahres entstanden sind und die auf ganz sinnfällige Weise zeigen, wie man Gedichte baut.
Sie kommen ja nicht vom Himmel, sind keine Schmetterlinge, sondern schöne, manchmal bizarre Bauwerke. Früher gern mit Vers und Reim, damit der Bau zusammen hielt. Das brauchen einige Dichter auch heute noch. Da merkt man dann nicht so schnell, dass ihre Vertrautheit mit den Wörtern nicht allzu groß ist. Die Fassade wird hübsch, der Inhalt eher Massenware.
Wer auf die schöne Fassade verzichtet, macht sich verletzlich. Oder zeigt, wie verletzlich man sein kann. Und braucht dazu nicht einmal Wörter aus dem Poesiealbum. Im Gegenteil. Je einfacher, ja harmloser und simpler die Worte scheinen, umso mehr verraten sie. Denn auch die Vielbenutzten, Gebräuchlichen und Oftgebrauchten sind voller Energie, verwandeln sich, verbinden sich und machen sichtbar, wie dicht unter der Oberfläche das liegt, was uns bewegt. Und woran wir so ungern und selten rühren. Unsere Sprachlosigkeit, unsere Hilflosigkeit, unsere Verletzlichkeit. Alles Töne, die man von Lydia Daher kennt. Kleine Texträume, in denen sie auslotet, was jetzt ist – und was jetzt wichtig ist.Wo andere flott darüber hinweg reden, sieht sie die Worte, die sich anbieten zum Innehalten, Stutzen und Lauschen. Gute Gedichte sind so: Sie lassen uns wieder zuhören und etwas wahrnehmen, was wir in all unserem täglichen Jagen meist nicht mehr spüren. Und auch nicht sehen, wenn wir eiligen Auges die Kolumnen in der Zeitung überfliegen. Terror hier, Katastrophe dort, Skandal hüben und Panik drüben. Eine Welt im andauernden Entsetzen. Bis in den Kulturteil der Zeitungen hinein.
Aber: “Auf kleinstem Raum / bündelt sich Sprache / geh hinein. Leise / in abgelegene Speicher / wo ein paar Geheimnisse / Licht Verstecken.” Das könnte mal ein Artikel über moderne Speichermedien gewesen sein. Und siehe da: Mittendrin steckt das Staunen über die Freude am Entdecken und Verstecken.
Man kann sich gut vorstellen, wie die Augsburger Dichterin über den großen Zeitungsbögen sitzt und sich freut, wenn sie Worte findet, die zueinander passen – ritsch, ratsch – und schon fliegt der nächste Schnipsel auf die Tischplatte oder auf den Teppich. Sie braucht ja nicht viel. Ihre Gedichte sind kleine, komprimierte Botschaften mitten aus dem Tag, dem Abend oder der Nacht. Manchmal sehr einsam, weil Lydia Daher vor allem versucht, ihr eigenes Da-Sein zu begreifen, zu erfassen. Samt allem, was dazugehört – das Weg-Sein und das Verwirrt-Sein, das Einsam-Sein und das Staunen. In Collage Nr. 75 zeigt sie, dass man die Technik auch umdrehen kann: Man schnappt sich einen schwarzen Filzstift und streicht alles aus, was in einer Zeitungsmeldung verhindert, das daraus ein Gedicht wird.
Und da sie immer auch bildhaft dazu arbeitet, darf man sich an manchen Stellen auch an Max Ernst erinnert fühlen. Den Bruch im Bild eingeschlossen. Und damit genau auch jener Reiz, der Gedicht- und Bildcollagen ähnlich verstörend macht. Sprache ist ein herrliches Bastelmaterial. Ritsch ratsch: “zurück. in ein Blau / mit hochgezogenen Beinen”. Da wird selbst aus missglückten Bildern anderer Leute ein poetisches Hoppla: Gleich neben all unserer Ernsthaftigkeit lauert das Ver-Sprechen nur darauf, geschnappt zu werden. Auf dass wir mal wieder merken, dass die simplen, landläufigen Wahrheiten eher nur trügerisch sind. Weil sie uns hindern, die Schönheit der Welt wahrzunehmen und unser eigenes – nur allzu berechtigtes – Staunen. Oder mit Lydia Dahers ausgeschnittenen Worten: “was hätte sein können / schlendert / ins Jetzt herüber …”
Wer anschauen und lesen will, der hat hier ein Bilderbuch der besonderen Art.
Lydia Daher “Und auch nun, gegenüber dem Ganzen – dies”, Voland & Quist 2014, 17,90 Euro
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