Was würden Sie tun, wenn eine Institution namens WGC - "World Genetic Center" - sich an Sie wendet, Ihnen für ein paar Jahre Lebensunterhalt spendiert und nichts anderes haben will, als ihre Lebenserinnerungen? Mitmachen und einfach hinnehmen, was sie einem versprechen? Oder skeptisch werden? - Für Stauffers Helden Henri Choffat ist das ein Angebot. Er nimmt an und zieht - um Ruhe zum Schreiben zu haben - in ein Altersheim.
Stauffer selbst ist noch gar nicht so alt – gerade einmal 41. Aber das ist so ungefähr auch das Alter seines Henri Choffat, der von seinem Behördenjob die Nase voll hat. Das Angebot kommt ihm gerade recht. Irgendwie, auch wenn er nicht so recht weiß, wie er es anpacken soll. Wie erzählt man sein Leben? Was ist wichtig? Und womit könnte man das Interesse der Leute vom WGC wecken?
Wer dahinter stecken könnte, das interessiert ihn erstaunlich lange nicht. Eher ist er verblüfft, wie schnell er sich als Teil der Lebenswelt in diesem Altersheim begreift. Auch wenn er sich raushält und all die Beschäftigungstherapien für die Alten nicht mitmachen muss. Sie holen ihn trotzdem in ihre kleinen Verschwörungen hinein, als Zeugen für die schon zum Teil recht gefühllose Art und Weise, mit denen sie therapiert und auch zuweilen gegängelt werden.Es ist also eine Geschichte mit verschiedenen Möglichkeiten: Wird die Rebellion der Alten gelingen? Oder wird Choffats Anwesenheit nur jenen Zwiespalt beschreiben, in dem eine zusehends überalternde Gesellschaft steckt, die es bislang gewohnt war, alte Menschen eher wieder wie unmündige Kinder zu behandeln?
Wollen es sich alte Menschen denn – auch wenn Kopf und Glieder nicht mehr so richtig mitmachen, gefallen lassen, selbst beim letzten bisschen Spaß im Leben noch bevormundet zu werden? Beim Sport, bei der Ernährung oder bei dem Wunsch, ein Haustier um sich zu haben? – Fragen, die so ja nicht nur in Stauffers Heimat in der Schweiz anstehen, sondern auch in Deutschland. Natürlich von Einrichtung zu Einrichtung und von Betroffenem zu Betroffenem unterschiedlich. Es gibt die 90-Jährigen, die noch immer fit in Kopf und Körper sind und zu recht auch mit Anspruch und Respekt behandelt werden wollen. Und es gibt die 70-Jährigen, die schon tief abgetaucht sind in die Demenz.
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Aber nicht das ist das Seltsame an Choffats Geschichte, die Stauffer in Form eines USB-Sticks über den Weg läuft, als in seiner Nachbarschaft eben jenes Altenheim abbrennt, in dem Choffats Geschichte spielt. Auf dem Stick sind Choffats Dateien, die er im Lauf des Jahres abgespeichert hat – manchmal tagebuchartig, manchmal als kleine Beschreibung des Alltags im Heim, seiner Begegnungen und seiner Versuche, die Website von WGC irgendwie zu füllen mit relevanten Geschichten und Erinnerungen.
Irgendwann merkt er, dass WGC ihm sogar schon Interpretations-Angebote macht für seine Lebensgeschichte. Die Fabel dahinter ist seine fiktive genetische Gleichheit mit 22 anderen Personen irgendwo in der Welt. Und wenn die Testpersonen sich alle schon so gleichen, dann werden sich doch wohl auch ihre Erlebnisse gleichen und die Bilder aus den verschiedenen Lebensepochen sowieso. So dass Choffat dann selbst irgendwann anfängt, die eigenen Erinnerungen aufzupeppen durch die Erinnerungen seiner Mitbewohner.
Zu gern hätte er auch gelesen, was die anderen Testpersonen geschrieben haben. Der Zweifel nagt in ihm, dass das, was er erfährt, auch das ist, was wirklich passiert hinter den Kulissen von WGC. Das Unternehmen reagiert so verschlossen, wie es große Staaten und Unternehmen tun, wenn sie dubiose Programme fahren, von denen die Bevölkerung nichts wissen soll.So weit, die Sache aufzuklären, gehen Choffat und Stauffer nicht. Am Ende steht nur der unbewiesene Verdacht, der sich aber auch gegen das Heim richtet und die seltsame Rolle der Heimleitung. Fand hier – hinter der Kulisse eines fast unwichtig erscheinenden Vorgangs – ein Experiment statt? Wurde Henri Choffat manipuliert und hat es die ganze Zeit gar nicht gemerkt?
Es gibt keinen Showdown – auch wenn das Abbrennen des Altersheims beim Johannisfest wie einer aussieht. Es bleibt nur ein vager Verdacht, der sich – anders etwa als bei Autoren wie Robert Harris, William Gibson oder Jonathan Lethem, nicht verdichtet zu einem großen, fast greifbaren Manipulations-Szenarium. Was dann aber auch wieder unübersehbar die europäische Sicht auf das ist, was sich mit den sich manifestierenden Strukturen im Internet so langsam zusammenbraut. Anglo-amerikanische Autoren sind da sichtlich viel scharfsichtiger und unromantischer als etwa die deutschen Politiker und Medienmacher, die Big Brother immer noch einen guten Willen unterstellen und irgendwie darauf vertrauen, dass niemand etwas Böses will.
Aber darum geht es ja weder den staatlichen Geheimdiensten noch all den Konzernen, die längst schon nicht mehr nur Daten sammeln und verknüpfen. Etliche von ihnen sind längst dabei, diese Daten auch dazu zu nutzen, Meinungen, Sichtweisen, Handlungsmuster zu beeinflussen. Auf ganz subtile Weise, so wie es Henri Choffat erlebt, der zumindest noch ahnt, dass er eine Testperson ist. Und der sich bestätigt sieht, je mehr Angebote er von WGC bereitgestellt bekommt, die seine eigene Kindheit rekonstruieren. Angebote, die er gern annimmt, auch wenn er die wirklich markanten Geschichten seiner Kindheit doch lieber nur auf dem Stick speichert.
Ansichten eines alten Kamels
Michael Stauffer, Voland & Quist 2014, 16,90 Euro
Endgültig munter wird er, als ihm die WGC-Seite, nachdem er tatsächlich eine gefakte Matura-Geschichte hochgeladen hat, seine originale Matura-Rede aus irgendwelchen Archiven präsentiert, deutlich versehen mit dem Hinweis: Wir wissen mehr über dich, Henri Choffat, als du glaubst.
Veranstaltungstipp: Wer noch mehr wissen will über den Schweizer Autor Michael Stauffer und sein Buch “Ansichten eines alten Kamels”: Am Mittwoch, 9. April 2014, um 20 Uhr ist er zu Gast im Voland & Quist-Literatursalon im Horns Erben (Arndtstraße 33).
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