Nieder mit den Vorurteilen. Sie verkleben unsere Welt. Sie verkleben auch das Bild vom südlichen Sachsen, das mit "Erzgebirge" nur sehr allgemein umschrieben ist. Auch wenn das Gebirge und seine Bergbautradition natürlich nicht zu vermeiden sind, wenn man die Landschaft von Altenberg bis Zwickau, von Dresden bis Rittersgrün erkunden möchte. Aber was klebt man vorne drauf, fragte sich der Gmeiner Verlag?

Irgendwie kann man sich vorstellen, wie der Autor die Stirn kraus zieht und den Verlag bittet, doch lieber ein heißes Motorrad vorne drauf zu packen oder ein Bild der Freien Republik Schwarzenberg, den Steinernen Wald aus Chemnitz oder Burg Scharfenstein. Aber da saßen ihm wohl der Marketingmann und der Layouter gegenüber und meinten: Erzgebirge, das kann man nur mit Räuchermännel verkaufen. Weihnachtsland und so, Sie wissen es doch, Herr Hübler? – Aber das ist doch nur Seiffen! Das Erzgebirge ist viel mehr! Bergbau, Eierschecke – und zwar nach Freiberger Art -, Mühlen, Brauereien, Eiskanäle!

Nee, nee, Herr Hübler. Wir kennen unsere Kundschaft. Die will Räuchermännel, Schnee und Weihnachtsland. Sie haben doch in Rothenthal selbst so ein schönes Räuchermännel fotografiert. Das nehmen wir einfach. Das kommt gut.Und so räuchert ein Männel aus Rothenthal auf dem Umschlag des Buches, in dem der Dresdner Reisejournalist Jan Hübler 66 Lieblingsplätze in jener Landschaft beschreibt, die gleich hinter Dresden beginnt und auch den Abstecher nach Böhmen einschließt, denn das Riesengebirge hört ja nicht an der Grenze auf. Dahinter hat es ebenso eindrucksvolle Schönheiten zu bieten – auch wenn die tschechischen Restaurierer und Sanierer noch nicht so weit sind wie die auf der sächsischen Seite. Aber auch diese Urlaubslandschaft gewinnt wieder Konturen. Und sie gewinnt sogar sehr sportliche Konturen, denn wer die schwungvollen Straßen nicht mit dem Motorrad befährt, ist immer öfter mit dem Mountainbike unterwegs.

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Jan Hübler hat so eine 66-Stationen-Tour auch schon zu seiner Heimatstadt Dresden geschrieben, aus der er – noch kurz vor der Friedlichen Revolution – mit dem Ballon die Flucht antrat. Die Entdeckungsreise durchs Erzgebirge macht man natürlich nicht an einem Tag. Eher sind es vier Urlaube oder fünf, wenn man das alles mal beschauen möchte. Den ersten kann man in Dresden beginnen, denn das Osterzgebirge ist für die Dresdner ja sozusagen ihr zweites Hinterland. Hier wird sofort sichtbar, dass man es nicht mit dem Weihnachtserzgebirge zu tun hat. Hier spielen zwei wilde Flüsschen gleich mal eine Rolle, die Dresden bei Starkregen in helle Aufregung versetzen – Weißeritz und Lockwitz, hier lockt ein Eibenwald, das Uhrenmuseum Glashütte, der Wintersport in Altenberg und – je näher man Freiberg, der reichen Stadt, kommt, umso mehr zeigt der Bergbau seine Erinnerungsstücke. Das ist alte sächsische Wirtschaftsgeschichte. Das Silber aus dem Erzgebirge hat das Land reich gemacht.

Und auch wenn es hinter Freital ins Mittlere Erzgebirge geht, heißt das nicht, dass man es jetzt überall mit Weihnachtspyramiden und geschnitzten Engeln zu tun bekommt. Man sieht Burgen wie die Burg Kriebstein, darf sich dabei an Ritter Runkel erinnert fühlen und ein bisschen vergessen, dass Burgen vor allem gebaut wurden, um Handelswege zu schützen. Und hier ist sächsische Wirtschaftsgeschichte allerorten zu sehen – Saigerhütten, Ölmühlen, Motorradschmieden. Und auf Burg Scharfenstein begegnet man Karl Stülpner, dem “Robin Hood des Erzgebirges”. Da ist man sowieso fast schon in Chemnitz, der Stadt mit dem “Nischel” und der Bibliothek, “auf die selbst die Dresdner neidisch sind”. Hier kann man – wenn man sich Zeit nimmt – auch sehen, das Chemnitz mal das Einfallstour für die Moderne nach Sachsen war. Nicht Leipzig.Im Oberen Erzgebirge dann gibt’s in Neudorf noch einmal “Rauchende Kegel und süßlichen Duft”. Aber ein paar Stichworte genügen, um auch hier nicht nur Holzgeschnitztes zu vermuten: Annaberger Kät, Greifensteine und ein durchlöcherter Sauberg. Und was macht Erich Honecker im Gotteshaus? – Diesmal sucht er keine Zuflucht vor aufgebrachten Bürgern. Andrea Müller zeigt in ihrem DDR-Museum in Gelenau, dass der Osten tatsächlich farbenfroh war, sogar in den so arg gescholtenen Läden. Vielleicht ein bisschen anders farbenfroh. Aber grau war das wirklich nicht. Mit dem Wechsel ins Westerzgebirge zeigt Hübler dann, wie das Gebirge bei Radsportlern immer mehr an Interesse gewinnt. Da muss man nicht nach Frankreich fahren, um eine Tour de Schweiß zu fahren. Das kann man rund um Rittersgrün viel schöner. Hier gibt es übrigens ein niedliches Eisenbahnmuseum, eines der Zeugnisse für die einst bewegte Zeit der Schmalspurbahnen im Erzgebirge. Und in Bad Schlema – kurz vor der Freien Republik Schwarzenberg – begegnet dem Reisenden die Geschichte eines Radonbades in engster Nachbarschaft zur Geschichte des Uranbergbaus in Sachsen. Vieles liegt hier eng beieinander – Bürgerstolz, Talsperren oder das eindrucksvolle Daetz-Centrum in Lichtenstein, wo Hübler den Tod fotografiert hat, wie er mit einer jungen Schönheit tanzt. Genug gesehen? Oder noch hungrig? Etwa auf den faszinierenden Wald aus dem Kohlezeitalter, der in Oelsnitz zu bewundern ist?

Natürlich lässt der Motorradfahrer Hübler den Bikertreff an der Talsperre Eibenstock nicht aus, bevor er auch noch elf Touren hinüber auf die böhmische Seite nachlegt, wo man Kontraste erleben kann, wie sie in Sachsen nicht mehr ganz so häufig sind – etwa vom kleinen Schloss Eisenberg in der Nacht hinunter zu schauen in die Mondlandschaft eines Tagebaus mit den gleißenden Lichtern der Bagger.

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Erzgebirge – Waldesrausch und Silberglanz
Jan Hübler, Gmeiner Verlag 2014, 14,99 Euro

Man hat am Ende eine ganze Menge mehr gesehen als eben nur “Waldesrausch und Silberglanz”, auch wenn Hübler an einigen Stellen im Buch besonders auffordert, auch die Waldlandschaft in ihrer Schönheit wahr zu nehmen. Man reist ja sonst meist viel zu schnell hindurch und vergisst vor lauter Reisezielen das Erleben der Reise selbst. Manches Berühmte wird man vermissen unter Hüblers Tipps. Aber es sollen ja auch Lieblingsplätze sein, Orte, die es lohnt zu entdecken, wenn man Reisen nicht als Abhaken von Ich-war-da-Listen begreift. Manchmal sind es Details, die Hübler faszinieren – künstliche Wasserfälle zum Beispiel.

So eine Aus-Zeit im Erzgebirge kann auch eine Zeit des Wieder-Sehen-Lernens sein. Man sieht dabei eine ganze Menge mehr, als man üblicherweise in Prospekten oder diversen tümelnden Fernsehsendungen zu sehen bekommt. Und vielleicht nimmt man dann eben doch nicht das Räuchermännel mit, sondern den Schuber mit der kompletten DEFA-Serie der Stülpner-Verfilmung mit Manne Krug.

www.janhuebler.de

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