Deutschland ist zwar ein Einwanderungsland. Aber es hat keine Willkommenskultur. Eine Abschiebe- und Abschreckkultur schon. Großmäulig will es in der Weltpolitik mitreden. Aber wenn es um die zunehmenden Krisen und existenziellen Nöte in der Welt geht, taucht es ab. Dann kommen die Buchhalter und Ordnungspolitiker zu Wort, die finstere Invasionsbilder an die Wände malen. Aber was ist mit den Menschen, die trotzdem nach Deutschland kommen? Illegal.
Illegal? – Ein seltsames Wort. Auch in Leipzig erscheinen immer öfter Graffiti an den Wänden: “Kein Mensch ist illegal.” Es haben nur einige die Gnade der richtigen Geburt. Andere werden in Ländern geboren, in denen die Stellvertreterkriege des Westens ausgetragen werden, geraten zwischen die Fronten, verlieren ihre Existenzgrundlage. Und versuchen alles, um einen Ort in der Welt zu erreichen, wo man überleben kann.
Zu Tausenden stranden die Flüchtlinge aus Afrika an Europas Südgrenzen. Hunderte ertrinken. Das Unglück von Lampedusa 2013 war nur das bislang schlimmste, das von dieser Tragödie erzählt, mit der die Mittelmeerländer völlig überfordert sind. Und Deutschland? – Deutschland hält sich fein raus. Schon vor 20 Jahren hat die Bundesrepublik – nach rassistischen Ausschreitungen in Rostock und Hoyerswerda – die Asylgesetzgebung verschärft und damit die im Grundgesetz gewährten Menschenrechte völlig ausgehöhlt. Wer in Deutschland einen Asylantrag stellt, ist auf die Gnade der Ausländerbehörden angewiesen. Erst recht, seit es die dubiosen Definitionen zu “sicheren Herkunftsländern” und seit 2003 die Dublin-II-Verordnung gibt, die am 1. Februar 2014 durch die Dublin-III-Verordnung abgelöst aber nicht entschärft wurde. Die Hauptlast der Einreisewilligen haben die Länder am Rande Europas zu tragen, die so genannten Ersteinreiseländer, denn die meisten Flüchtlinge kommen ja übers Meer oder über Land, nur wenige mit dem Flugzeug.
Deutschland hat auch diesmal gekniffen und sich jeder Solidarität entzogen. Das Ersteinreiseland gilt als das Land, in dem der Asylantrag zu stellen ist. Wer in Deutschland aufgegriffen wird, weil er selbst so weit gekommen ist oder Schleuserbanden ihn bis hierher gebracht haben, wird wieder abgeschoben. Egal, welche dramatischen Lebensumstände der Einreise zugrunde liegen.Es gibt nur Vermutungen, wieviele Menschen sich derzeit ohne Papiere in Deutschland aufhalten. Die Zahl von 1 Million, die von einigen Leuten immer wieder genannt wurde, stimmt wohl nicht. Eher sind es zwischen 100.000 bis 400.000. Auch das sind nur Schätzungen, denn diese Menschen melden sich ja nicht bei den Ämtern. Aus gutem Grund, wie Daniel Gäsche immer wieder erfuhr, als er sich 2013 auf die Recherchetour begab zu all diesen Menschen, die hoffen, in Deutschland überleben zu können, vielleicht sogar unbehelligt arbeiten zu können. Doch für fast alle Behörden gilt die Meldepflicht. Wenn sie eines Menschen habhaft werden, der keine Aufenthaltspapiere hat, erfolgt die Meldung an die Ausländerbehörde und fast postwendend der Zugriff der Polizei. Auch wenn die Ertappten sich nichts zu schulden haben kommen lassen. Außer einen Verstoß gegen das, was dann in Polizeiberichten dann als Ausländerrecht erscheint.
Viele diese Menschen sind direkt aus den Konfliktzonen dieser Welt nach Deutschland geflohen – aus Tschetschenien, Georgien, Afghanistan, Irak, Somalia. Alles Konflikte, an denen die westlichen Staaten nicht ganz unschuldig sind. Es gibt auch die Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kommen. Ein Motiv, das gerade konservative Hardliner gern verdammen, auch wenn die Armut in den Ländern, aus denen diese Menschen kommen, oft genauso mit dem Reichtum des Westens zu tun hat, der davon profitiert. Die billigen Produkte nimmt der Westen gern – die eine Existenz suchenden Menschen nicht.
Dabei ist es auch in Deutschland nicht so, dass diese illegal Eingereisten hier nicht arbeiten. Im Gegenteil: Viele Dienstleistungsbereiche würden ohne sie gar nicht mehr funktionieren. Und es gibt hunderte deutsche Firmen, die davon profitieren, dass diese Menschen nicht gemeldet sind und damit nicht gegen Hungerlöhne protestieren. Denn auch das birgt die Gefahr in sich, dass sie auffliegen.
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Gäsche aber wollte nicht nur die Schicksale einiger dieser Menschen erkunden. Er wollte auch wissen, wie Deutschland tatsächlich mit ihnen umgeht. Denn es ist ja ein Land, das nicht nur aus konservativen Hardlinern besteht. Auch hier gibt es Hilfsorganisationen, die mit Spendenmitteln versuchen, diesen Menschen zu helfen, die ärztliche Dienste anbieten und mit dem Staat darum ringen, dass es endlich so etwas wie einen anonymen Krankenschein gibt. Das Wort scheinheilig fällt mehrfach in diesem Buch, denn natürlich verhalten sich Politik und Staat in Deutschland scheinheilig, wenn sie zwar die (unversteuerte) Billigarbeit dieser Menschen dulden, sie aber beim Ertapptwerden behandeln wie Kriminelle.
Gäsche besucht auch zwei Abschiebehaftanstalten in Berlin und Eisenhüttenstadt, völlig überdimensioniert und geradezu menschenverachtend. Damit ist Deutschland zwar nicht besser als die Nachbarländer, die ohne Papiere aufgegriffene Menschen genauso schäbig behandeln. Aber andere Länder wie Italien und Spanien legalisieren in bestimmten Abständen die illegal im Land Lebenden, wohl wissend, dass das sogar für beide Seiten vorteilhaft ist: die Menschen ohne Papiere werden zu gemeldeten Staatsbürgern, die jetzt auch Steuern und Sozialabgaben zahlen. Und die Polizei muss sich nicht mit Dingen beschäftigen, die einer Demokratie nicht wirklich würdig sind.
Denn eines ist ja auch ziemlich deutlich: So lange die westliche Staatengemeinschaft es nicht schafft, die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern dieser Menschen zu verbessern und die Kriege und Krisen in der Welt aktiv zu minimieren, so lange werden Menschen Geld und Mut aufwenden, um in Europa einen neuen Start zu versuchen. Das einzige, was die europäische Kriminalisierung der Einwanderung mit sich bringt, ist ein lukratives Geschäftsfeld für Schleuserbanden und moderne Sklaverei. Das trifft auch auf einen großen Teil der in Deutschland heimischen Prostitution zu. Für die betroffenen Frauen ein Teufelskreis, denn wenn sie sich melden, werden sie abgeschoben. Oft genug in Länder, in denen sie nur wieder Armut und Stigmatisierung erwartet.
Gäsche besucht auch verschiedene Hilfseinrichtungen, die versuchen, den Menschen zu helfen, die sonst ohne jede ärztliche und soziale Unterstützung in Deutschland leben würden. Auch die Gewerkschaft hat das Thema für sich entdeckt und trägt stellvertretend für die ausgebeuteten Arbeiter ohne Papiere die Gerichtsfehden mit den nutznießenden Unternehmen aus. Auf der politischen Agenda steht das Thema schon lange. Gäsche hat ein Dutzend Politiker aller Farben interviewt – von den Konservativen, denen nichts über Regeln und Ordnung geht, bis zu den Vertretern jener Parteien, die immer wieder daran erinnern, dass Deutschland auch eine Pflicht hat. Nach wie vor durch das Grundgesetz zumindest benannt, wenn auch durch immer neue Ordnungsgesetze in den letzten 20 Jahren unterhöhlt. Als hätte man mit dem Jahr 1990 alle Erinnerung an das finsterste Kapitel der deutschen Geschichte beiseite gewischt, in dem Millionen Deutsche auf einmal binnen kürzester Frist ein Asyl brauchten.
Jetzt scheint das alte, ordnungsstaatliche Denken, das es den Nationalsozialisten so leicht gemacht hat, wieder allüberall zu regieren. Es gibt keine echte Integrationspolitik und auch kein eigenständiges Ministerium, wie es andere moderne Staaten längst haben, die wissen, dass Länder dringend Zuwanderung brauchen. Und dass man Integration auch organisieren kann.
Das muss sich ändern, ist Gäsches Plädoyer. Denn das, was bundesdeutsche Behörden praktizieren, hat mit Transparenz und menschlichen Grundrechten nichts zu tun. Menschenwürde wird hier mit Füßen getreten und Menschen werden kriminalisiert, die nichts sehnlicher wünschen, als in Deutschland arbeiten und leben zu dürfen. Gäsche trifft auch einige jener Menschen, die versuchen, in Deutschland Fuß zu fassen. Manche blieben da, nachdem ihr Asylantrag abgelehnt wurde oder ihr Visum ablief. Doch ab dem Zeitpunkt, ab dem sie keinen offiziellen Aufenthaltsstatus mehr haben, wird jeder Weg zur Gefahr, droht jede Begegnung mit der Staatsmacht zum Weg in den Abschiebeknast.
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Daniel Gäsche, Militzke Verlag 2014, 14,90 Euro
Es ist ein eiskaltes, bürokratisch verknöchertes Deutschland, das da regiert. Und immer wieder taucht auch so beiläufig die Frage auf: Warum lassen wir die Herzlosigkeit regieren? Ist dieses Land wirklich schon wieder auf dem Weg, sich einzumauern? Eine große Klappe nach außen, zu Hause aber engherzig und rücksichtslos gegen alle Schwachen, die da anklopfen?
Ein hochaktuelles Buch über ein Thema, bei dem sich dieses Land tatsächlich nicht mehr wegducken kann, wenn es je ein modernes Land werden will.
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