Leipzig, so erklärt Kerstin Lange, gehört zu ihren Lieblingsstädten. Sie lebt in Speyer, hat sich aber 2012 um den Leipziger Krimipreis beworben. Und sie schaffte es bis in die Nominierungsliste, denn mit Kriminalromanen hat die junge Dame mittlerweile Erfahrung. Sie weiß, wie man's spannend macht. Auch wenn man den Stromschwimmer am Ende vermisst.
Manchmal muss ein Titel einfach knackig sein. Aber da kann auch passieren, dass er ein bisschen zu allegorisch wird. Dabei braucht’s hier gar keine Allegorie, denn der Stoff, der hier eine Rolle spielt, ist finster genug: Es geht um das Doping im Hochleistungssport der DDR und die damit verbundene Leipziger Forschung. Am Anfang steht scheinbar ein simpler Selbstmord: Eine junge Frau springt vom Völkerschlachtdenkmal. Doch sie sprang nicht ohne Grund: Ihr Körper ist völlig kaputt, gezeichnet vom Medikamentenmissbrauch in ihrer Jugend, als sie zum Leistungskader im Schwimmen gehörte. Dass sie dabei für Doping-Experimente missbraucht wurde, scheint ihre Mutter auch jetzt noch nicht zu akzeptieren, als Kommissar Lorenz Staufenberg versucht, die Sache aufzuklären.
Dass er so wenige Tage vor seiner Pensionierung gleich zwei knifflige Fälle auf den Tisch bekommt, konnte er nicht ahnen. Der zweite braut sich in einem Krankenhaus zusammen, das Kerstin Lange vorsichtshalber gar nicht erst mit einem der existierenden Leipziger Krankenhäuser zusammengelegt hat. Denn hier scheint einiges schiefzulaufen – gleich eine Reihe älterer Patienten stirbt unerwartet wenige Stunden nach einer geglückten Operation. Doch es ist nicht die Krankenhausleitung, die skeptisch wird, sondern ein junger Krankenpfleger, der sich erst einmal anonym an den alten Kommissar wendet und damit eine Geschichte lostritt, die erstaunlicherweise ins selbe Milieu führt wie der Selbstmord am Völkerschlachtdenkmal. Nur dass hier einige dubiose Personen aus der einstigen Sportforschung auftauchen. Einer davon liegt ausgerechnet in der besagten Klinik und hat nun augenscheinlich einer jungen Frau aus dem Westen etwas ganz Wichtiges zu sagen.
Mit Sport hat sie zwar nichts am Hut, aber die Lebensgeschichte ihrer Mutter ist irgendwie mit Leipzig und der Sportkaderschmiede verknüpft. Kein leichtes Feld, denn so ratlos wie die junge Frau aus Neuss sind auch andere in dieser Geschichte, über die die Eingeweihten schweigen und die Öffentlichkeit fast nichts weiß. Welche Rolle spielten der Mann im Krankenhaus und sein neuer Helfer in der Privatklinik, die er in Leutzsch aufgemacht hat? Eine Klinik, in der sein altes Knowhow auf neue Weise zum Geldbringer wird, denn hier macht er ausgebrannte Manager fit, bringt sie mit den erprobten Methoden wieder in den Zustand der Höchstleistungsfähigkeit, damit sie in jenem Wettbewerb mithalten können, in dem es nur noch um höchste Einsätze im Powerlevel geht.
Lange lässt es ihre Protagonisten erklären wie die Anpreisung einer modernen Firma. Aber nicht nur Jessica hört dieser Erklärung verdattert zu. Auch weil sie so logisch ist. Die Rolle des Höchstleistungssports und seine Anerkennung nicht nur in der DDR haben sehr viel mit dem Leistungsdenken und Selbstverständnis einer Gesellschaft zu tun, die immer wieder die Besten, Fittesten und Leistungsstärksten belohnt. Doch während man mit Doping im Sport eher verdruckst und hilflos umgeht, wird Doping im Berufsleben bislang kaum problematisiert, auch wenn die Folgen dieselben sind. Vielleicht nicht ganz so krass wie bei den Opfern in dieser Geschichte, die direkt mit den medikamentösen Experimenten der 1980er Jahre konfrontiert waren. Aber wer nur über die Mittel debattiert, hat das Prinzip nicht verstanden. Denn darin steckt ja erst die gemeinsame Verschwörung einer ganzen Gesellschaft, wenn sie sich berauscht an Siegen, Erfolgen und überragenden Leistungen. Sie verliert den Maßstab für das Normale, das ohne Gesundheitsschäden Leistbare. Sie feiert den Verschleiß und den Missbrauch. Den eigenen und den fremden.
Es steckt also ein ganz erhebliches Stück Explosionskraft im Thema, mit dem Kerstin Lange ihre Geschichte unterlegt hat. Aber das hätte natürlich so einen Krimi, der sich an einem Abend wegliest, gesprengt. Obwohl man sich dergleichen natürlich wünschen darf. Am ehesten natürlich von Krimi-Autoren, die sich vor der Wirklichkeit unseres Landes nicht so scheuen wie all die Buchpreisgewinner, die sich die kleinen Abenteuerchen in biederer Mittelstandsumgebung geradezu aus den Fingern saugen, nur um ja nicht in den Ruch zu kommen, sie könnten sich mit der platten irdischen Wirklichkeit beschäftigen.
Kriminalpolizisten müssen das ja schon von Berufs wegen. Und ein gängiger Topos ist unter Krimi-Autoren ja mittlerweile der leidende Ermittler, der irgendwann die Nase voll hat von den Abgründen und Finsternissen unserer Gesellschaft. Meistens nicht ganz so heftig wie bei Mankell oder Svedelid. Aber es ist da. Und es wirkt vertraut, denn oft genug ist es ja wirklich so, dass die Ermittler allein gelassen werden mit ihren Erkenntnissen. Die hohe Politik versteckt es in Zahlen und spart dann trotzdem weiter, ignorierend, dass damit auch an einer notwendige Medizin gespart wird, die eine offene Gesellschaft dringend braucht. Nur dann und wann ploppt das Nicht-Ermittelte dann auf als Müllskandal, Korruption, Immobiliensumpf, Menschenhandel … Es ist ja alles da.
Und selbst wenn der Staat selbst die Dinge unter der Decke hielt, heißt das ja nicht, dass die betroffenen Menschen darunter nicht leiden. Oder letztlich in Selbstmord ihren Ausweg suchen, wenn auch die nächsten Menschen nicht Teil haben wollen an Leid und Sorgen.
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In Langes Geschichte ist es ausgerechnet die Tante der jungen Selbstmörderin, die ihrem Gefühl, es sei nun wirklich genug mit all dem Leiden, auf recht abwegige Art Luft zu machen versucht. Es scheint als Motiv nicht wirklich auszureichen. Aber dieses Gefühl mutet vertraut an, diese schleichende Überlastung einer Gesellschaft, in der das Leid der Menschen nur noch als störend empfunden wird, während der Eiertanz um die volle Leistungsbereitschaft immer wilder getanzt wird. Als dürfe niemand mehr innehalten oder gar nur Schwäche zeigen.
Was dann doch eine sehr verblüffende Parallele ist zwischen der angeprangerten DDR-Sportpolitik und der Leistungs-Vergötterung der Gesellschaft, wie wir sie nun haben.
Da wundert es gar nicht, dass Staufenberg Jessica bei der Abreise so ganz versehentlich seine Gartenprospekte in die Hand drückt und die alten Akten aus den 1980ern verbrennt. Das ist dann schon ein bisschen mehr als nur eine Freudsche Fehlleistung, die ja bekanntlich keine Fehlleistung ist, sondern eine verblüffende Meldung aus unserem Unbewussten. So ein kleines: Hallo, lebst du noch?
Stromschwimmer
Kerstin Lange, Emons Verlag 2014, 9,90 Euro
Da kann man dann “Stromschwimmer” auch als leichte Generalkritik an einer Gesellschaft lesen, die ihre Mitglieder zu Höchstleistungsbringern machen möchte. Und wer nicht mehr mithalten kann bei den Siegern, der säuft gnadenlos ab.
Und damit sich auch in Leipzig keiner ertappt fühlt, steht vorn im Buch wieder der notwendige Spruch: “Handlungen und Personen sind frei erfunden …” Denn ins Gesicht sagen darf man es den Mitschwimmern ja nicht. Sie reagieren dann meist recht hysterisch und juristisch. Deswegen passieren viele Themen, die für unsere Gesellschaft eigentlich elementar und wichtig sind, mittlerweile nur noch im Kriminalroman. Was dann aber auch wieder die Blüte des Genres erklärt.
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