Wie wird man Künstler? Was ist Kreativität? Viele Leute glauben, dass sie es wissen und dass eigentlich nur ein bisschen Glück fehlt, ein Star wie Picasso zu werden. Oder wie Monet oder Spitzweg. Die Welt ist voller Beinahe-Kunst. Aber wo beginnt der Unterschied? - Einer, der es ganz praktisch weiß, ist Ulrich Klieber.

Seit 1996 betreut er an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle die Professur für Bildnerische Grundlagen. Und in jedem Semester bietet er Projekte für die Studierenden an der Burg Giebichenstein an unter dem Titel “Plastische Übungen in der künstlerischen Lehre” oder “für Nicht-Plastiker” oder “für Anti-Plastiker”. Die Wortwahl ist egal. Es geht um den kleinen Schalter im Kopf, das öffnen der Phantasie. Und das macht Klieber Semester für Semester mit den simpelsten Mitteln. Kinder kennen es. Und man wird beim Durchblättern das Gefühl nicht los: Es wird den meisten Kindern abtrainiert, dieses Ausleben des puren Gestaltungsdranges.

Es wird kanalisiert, in Raster gedrückt. Am Ende malen alle dieselben Schneemänner, basteln dieselben Engelchen und wünschen sich zu Weihnachten nur noch fertige Bausätze. Natürlich ist es bei richtigen Kindern ein bisschen anders. Aber die werden mit zunehmendem Alter immer weniger. Und wenn sie dann im Studium ankommen, sind sie zu 99 Prozent alle Erwachsene. Und sind arg bedacht darauf, Erwartungen zu erfüllen.

Und was, wenn nicht? Wenn der Professor einfach mal eine Ladung Bierdeckel auf den Tisch schmeißt und sagt: Nun macht mal! Dreidimensional. Spielt, baut, holt raus, was im Material steckt. Vielleicht noch ein paar Wäscheklammern … Ganz so einfach macht es Klieber nicht. Er gibt auch ein paar Denkansätze mit ins Spiel. Und er lässt die entstandenen Werke von den Studierenden grafisch umsetzen. So dass immer eine dreifache Spielebene da ist: die gedankliche, die die Möglichkeiten eines scheinbar simplen Gegenstandes auslotet, die dreidimensionale Umsetzung und das grafische Produkt.
Manchmal kommen die Arbeitsgruppen nicht gleich in die Gänge. Das Umschalten ist nicht leicht. Man lebt ja in einer Welt, in der alles schon “fertig” ist. Selbst das Spielzeug. Selbst das Material aus dem Künstlerbedarf. Und wie lang ist das her, dass man als Kind auch mal mit Dingen experimentierte, die eigentlich nicht zum Spielen da sind? Die aber in jedem Haushalt zu finden sind und nur darauf warten, dass ein phantasievoller Professor kommt, sie einsackt und in seinem Semesterkurs auf den Tisch schmeißt, ein paar Anregungen gibt, was mit dem zum Teil filigranen Material zu machen ist – und dann los.

Den Bierdeckeln folgen Sektflaschenverschlüsse, diese Drahtgebilde, die man bei langweiligen Partys sowie gern verbiegt, verdreht, auseinandernimmt. Das lässt sich steigern mit Blumendraht. Nächste Übung: Ton. Ton nicht hübsch weichgemacht, um daraus Plastiken zu formen, sondern halb hart noch, schwer formbar. Ton als Rudiment, simples Artefakt, rustikaler Abriss – was das Plastische, das Serielle und das Handgemachte neu sehen lässt. Erstaunlich schnell kommen Kliebers Kursteilnehmer in die Nähe von Henry Moore oder archaischer Plastikfunde.

Und wenn schon Plastik – warum nicht auch mal aufgeblasene? Die Nächste Übung bringt Luftballons ins Buch, beschäftigt sich mit Prallheit, Schlaffheit, Einschnüren. Aber auch Plastikbausteine regen zum Spiel mit Farben und Volumen an, Ordnung und Symmetrie. Und was kann man aus ausgeblasenen Eiern alles machen, wenn man sie nicht nur als Ostereier bemalen will? Wie kann man aus jedem möglichen Stück Papier Architekturen schaffen? Und wie schnell geht das? Und was passiert, wenn man noch eine Ladung Streichhölzer dazu nimmt? Oder Stecknadeln mit farbigen Köpfen?

Was lässt sich mit farbigen Seifen alles anstellen oder mit dem Bodensatz der Spielkiste der Kinder, wo sich all diese winzigen Plastikteilchen aus hunderten Ü-Eiern gesammelt haben? Kann man daraus Neues bauen? Und was passiert, wenn farbige Knete dazu kommt?

All diese Experimente, Plastiken und grafischen Umsetzungen hat Klieber fotografisch umsetzen lassen. Eigentlich wieder eine ganz neue Ebene: der Reiz der fotografischen Umsetzung. Einerseits Dokumentation und Anschauungsmaterial für den Leser. Andererseits auch wieder Kunstwerk, denn es hält flüchtige Arbeitsergebnisse fest. Denn natürlich sind das alles Übergangsstadien, Prozesse, die in der künstlerischen Arbeit ganz zu Anfang ansetzen, wenn eine Idee noch diffus ist und sich beim Experimentieren erst so langsam in eine Form findet. Natürlich frappieren viele der hier gezeigten Experimentalergebnisse. Sie erzählen auch davon, wie gut es den Kursteilnehmern gelang, sich freizuschwimmen, sich mit Lust und Phantasie dem vorhandenen Material zu widmen und daraus zum Teil Zauberhaftes zu bauen.

“Plastik ist überall”, heißt ein Kapitel, in dem Klieber die Studierenden mit der Kamera durch da alte Fabrikgebäude spazieren ließ auf der Suche nach einer anderen Sicht auf Haken, Nieten, Schalter, Kisten, Lampen. Das schult den Blick – auch für den ästhetischen Reiz des zum Teil abgenutzten,von Patina überzogenen Details, für die Schönheit des Altgewordenen. Wir leben ja auch in einer Gesellschaft, in der immer alles wie neu aussieht. Oder aussehen soll. Wenn es abgenutzt wird, erscheint es hässlich, schäbig. Als hielten wir es nicht aus mit der Vergänglichkeit der Dinge. Mit dem Aus-der-Norm-Fallen.

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Plastische Übungen in der künstlerischen Lehre
Ulrich Klieber, Seemann Henschel 2014, 29,95 Euro

Und fast alles ist genormt – vom Spielzeug bis zum Schokoladenweihnachtsmann, der im Hebst in ganzen Kolonnen in die Supermärkte einmarschiert. Was tut man mit soviel Uniformität? – Man setzt sie dem Fön aus und lässt sie schmelzen. Ganz systematisch, bis aus dem Normweihnachtsmann ein skurriler Schokoladenberg wird. Wen die Kreativität erst einmal geweckt ist, gibt es eigentlich kein Halten mehr.

Deswegen ist das schon das zweite Buch, das der Hallenser Professor zur künstlerischen Lehre zusammengestellt hat – als Mannschaftsarbeit. Die Studierenden, die sich hier ausgetobt haben, stehen alle hinten im Buch, samt den Fotografen, die die Arbeitsergebnisse in ästhetischer Schönheit eingefangen haben. Das Ergebnis ist ein Buch, das natürlich zum Nachmachen auffordert. Wer nicht das Glück hat, an der Burg Giebichenstein studieren zu können – ja, was hindert ihn, dergleichen auch mit all den Dingen aus seinem eigenen Hausrat anzustellen? Wieder mit Händen und Sinnen auszuprobieren, was machbar ist? Und es auch zu fotografieren und zu zeichnen und zu malen. Oder sich wieder auf das Abenteuer einzulassen, aus preiswerten Dingen aus dem Laden eigene Welten zu schaffen? Man muss es ja nicht gleich zum Erwerb machen wollen. Aber es könnte für so Manchen eine Wiederentdeckung einer fast verlorenen Lust sein, der Freude am Verändern von Dingen. Es muss ja nicht immer gleich die Welt sein. Aber warum nicht klein anfangen und die Freude erleben, wenn Dinge dabei entstehen, die es vorher nicht gab?

Anregungen stecken in diesem Buch genug.

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