Wie geht man eigentlich mit den Dichtern um, den alten und so hochverehrten? Stellt man sie auf einen Sockel? Spricht man sie heilig? Oder dreht man sie einfach mal durch den Fleischwolf? - Für heutige Dichter ist das eine ganz elementare Frage. Etliche tun lieber so, als gäb es die Alten nicht. Und schreiben entsprechenden Murks. Denn tatsächlich ist die Dichtung der Vergangenheit ein gewaltiges Bergwerk und eine Experimentierwerkstatt.
Die beeindruckenden Werke der heute Bekannten entstanden ja nicht, weil sie sich in den Formenkanon fügten und an die geltenden Normen. Sie probierten, als sie jung waren, alle was Neues – und es dauerte in der Regel ein Weilchen, bis die Verblüffung über das Neue abflaute und diese Arbeiten als “klassisch” empfunden wurde. Das lernt natürlich der heutige Leser nirgendwo – auch nicht in der Schule. Da wird ihnen Goethe, Schiller, Heine vorgelegt wie abgehangenes Fleisch. Die kleinen Leser müssen akzeptieren, dass das nun geheiligte Dichtkunst sei.
Der Blick darauf, wie neu und frappierend das einmal war und wirkte, der wird ihnen verstellt. Zumeist fürs Leben. Und die Neugier auf Lyrik gleich mit. Darauf geht Wolfgang Rischer ein, der im Innenteil dieses “Poesialbums neu” ein paar Fragen zur Lyrik beantwortet – speziell zu seinem Verständnis von “zeitgenössischer Lyrik”. Womit es schon kompliziert wird. Aber der Herausgeber des Heftes ist nun einmal die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik. Was dort natürlich simpel bedeutet: Man kümmert sich um die jetzt lebenden Dichterinnen und Dichter.
Rischer kann sich nicht ganz lösen von dieser schulischen Trennung in Zeitgenossen und “Gedichte vergangener Epochen”. Aber er weiß zumindest, dass das Spiel mit dem “Altvertrauten” zu den Reizen der Dichtung gehört. Man kann auch mit den Gedichten von Zeitgenossen spielen – wenn sie das hergeben. Man kann sich auch – ganz lyrisch – lustig drüber machen, wenn die Verehrten doch nur eine Manie pflegen, mit der sie auffallen wollen wie bunte Schwäne. In diesem Bändchen tut Dieter Höss so etwas mit drei Legenden der jüngeren deutschen Literatur. Eigentlich sind es Epigramme, die er da vorlegt. Womit er eine lyrische Form aufgreift, die ihre Blütezeit vor 250 Jahren hatte. Lessing war ein Meister dieser Form – ähnlich wie Goethe.
Aber die hier versammelten Autoren zeigen natürlich auch, dass man als heutiger Leser über mehr als nur das “klassische” Portfolio verfügen kann. Jede neue Generation schafft neue Schichten, neue Formen, neue Experimente. Manche davon werden oft schon von der zeitgenössischen Kritik kanonisiert. Was dann wieder neue Trampelpfade ergibt, auf denen die Schar der Nachahmer trottet. Benn und Jandl waren eine Zeit lang solche Mustergeber für ein ganzes Heer von Anbetern. Verständlich, dass sich in diesem Bändchen auch ein Gedicht findet, das deutlich macht, dass man auch vom Bennschen Asphalt irgendwann zu viel bekommt. Dieter Treck wird in seine Pointe sogar noch deutlicher: “Entbehrlich / ist der Stoff / aus dem die Räume sind.”
Aber nicht viel besser kommt Trakl weg, wenn Eckhard Erxleben und Bärbel Sanchez ihre Widmungsgedichte für den Hochverehrten schreiben. Mal landet der Vergötterte da, “wo er noch nie war”, manchmal sorgt die Wucht seiner Dichtung aber auch dafür, dass die Nachgeborenen verstummen.
Manchmal erkennen sich die heutigen darbenden Dichter in den von Almosen lebenden Dichtern der Vergangenheit wieder. Mal versucht man die wirren Schicksale der Einstigen wieder in dichterischen Stoff zu verwandeln. Beispielhaft an Rimbaud durchexerziert. Womit Hartmut Brie und SAID natürlich auch zeigen, dass ihnen auch das Leben der Toten eine Projektionsfläche ist. Findet man sich da wieder? Gehört es gar zum eigenen Jugendrepertoire? – Jack Kerouac etwa, mit dem Peter Frömmig den Beginn seiner Lebensreise teilt.
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Manche Autoren sind wie heftige Begegnungen mit der Zeit – das lodert auch Jahrzehnte nach der Begegnung noch weiter wie bei Eva-Maria Bergs Begegnung mit Jandl oder Monika Littaus Begegnung mit Achternbusch. Beim Durchblättern des Heftes wird deutlich, wie Lyrik als Strom durch die Zeiten fließt, Zeiten prägt und die Nachkommenden anregt, aufregt, mit sich nimmt. Manchmal auch in die Illusion, was bei den ganz, ganz Alten besonders gern geschieht. Shakespeare zum Beispiel, den schon die Romantiker sich nach ihrem Gusto zurechtbogen. Aber natürlich kommen auch Schiller und Goethe vor – und müssen sich gefallen lassen, dass die Heutigen ihnen den Sockel nicht wirklich wünschen. Denn ein vierjähriger Schiller, der Marbach verließ, war beim besten Willen nicht mehr als ein Dreikäsehoch. Und seinen West-Östlichen Divan hat der 70jährige Goethe wohl doch schon mit zitternder Hand geschrieben – auch die Liebesgedichte an Suleika. Oder etwa nicht?
Man sieht: Auch die heutigen Dichter können voller Lust sehr realistisch sein – und gerade daraus auch neue Poesie schöpfen. Dinge auf den Punkt bringen oder so sagen, dass sie durch das Gedicht erst sichtbar werden. Wolfgang Rischer: “Gedichte ermöglichen das Sagen des Nichtgesagten.” Mal weg vom “magischen Moment”: Sie zwingen den aufmerksamen Leser zu sehen, was man so im alltäglichen Drüberfliegen immer ausblendet. Was natürlich die Frage stellt: Gibt es noch genügend Menschen, die sich überhaupt noch so konzentrieren können auf das zum Vers Komprimierte? Das ja nicht leicht zu lesen ist, weil es – anders als das tägliche mediale Gewäsch – in die Tiefe taucht, das Verhüllte sichtbar macht, unter der Oberfläche das Verwirrende, das unser Leben ist. Oder werden Gedichte einfach aussterben, weil die Rezeption der Nachkommenden immer flüchtiger und oberflächlicher wird?
Fragen, die man durchaus anreißen darf, wenn schon mal von Marmor die Rede ist.
Poesiealbum neu “Kein Marmor. Gedichte über Dichter”, edition kunst & dichtung, Leipzig 2014, 4,80 Euro
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