Nur nicht aufgeben. Jeder Tag ist ein Neubeginn. Da kann man noch so viel gelebt haben. Wer noch Schauen kann, entdeckt, wie sehr ihn das Alles noch überraschen kann. Dichter machen so etwas. Zumindest, wenn es welche sind. Jeden Tag versuchen sie aufs Neue, sich selbst zu finden. Und staunen, wie schwer das ist. "Nichts habe ich gelernt", schreibt Jovan Zivlak.

Der Band “Winterbericht” enthält eine Auswahl seiner Gedichte aus neun Gedichtbänden, die der serbische Dichter zwischen 1979 und 2010 veröffentlicht hat. Wer den Krieg sucht, der sein Land zerriss, der findet ihn auch. Fast unmerklich schiebt er sich in die Texte, anfangs als Verstörung und Befremden, kaum spürbar, denn fremd fühlte sich dieser Dichter auch vorher schon. Zwangsläufig, wer das Gegebene nicht als gegeben nimmt, der lebt im Widerspruch. Für den ist das Gegebene nicht gegeben, sondern ein Schauplatz der Ungewissheiten und Überraschungen. Gesteigert durch das eigene Tun.

Seine Gedichte sind wie kleine Filmsequenzen. Man begleitet ihn, schaut mit seinen Augen. Erlebt, wie er einen Markt erlebt. Keine bunte Postkarte, eher ein Bild, das in seinen dicht gedrängten Motiven fast schon surreal wirkt: “Das Rollen des verstreuten Obstes / auf dem Markt. Das Geschrei: Hostien, die man / schnell unterm Tisch austeilt …” (“Einen Blumentopf umstürzen”)Kinder kennen diese Perspektive, dieses Noch-Nicht-Verstehen von all dem, was da vor sich geht. Manche bewahren sich das, gehen auf die oberflächlichen Erklärungen der Anderen nicht ein, dieses zur Gleichgültigkeit erstarrte “Es ist eben so”, das die Welt mit einem grauen “Frag nicht so viel” zuklatscht. Viele richten sich darin ein, schließen Augen und Ohren. Und haben nie wieder eine Frage. – Solche wie Zivlak aber verlieren das Staunen nicht, das zuweilen auch beängstigend sein kann. Befremdend sowieso. “In einen Punkt versunken, / dringe ich so tiefer ein. An einem Tag / erobere ich enorme Weite …”

Das kann einsam machen. “Schneller / bin ich als viele. Die kommen später und gehen nie fort. / Meine Stärke liegt im Verzicht …” (“Leicht bin ich und beweglich”)

Man nimmt es ihm ab. Er umgibt sich nicht mit Überflüssigem. Und er ist verblüfft, wie wenige Spuren bleiben, wenn die Menschen fortgehen. Es ist ein unablässiger Lärm. Aber sie stehen nebeneinander. Ohne Trauer, ohne Erkennen. “O weh. Alle Leitungen sind in Betrieb aber niemand versteht,/ weshalb jener auf der anderen Seite andauernd wiederholt: hallo.” (“Tod der Dichtkunst”)

Mehr zum Thema:

Die schwermütigen Gedichte des Momcilo Nastasijevic: Ein serbischer Dichter der Moderne zum Entdecken

Literatur gerät immer wieder in die Mühlen …

Ein Poesiealbum und eine Lesetour: Gegen den Krieg

Die Buchmesse steht vor der Tür …

Leben im Countdown der angekündigten Bombergeschwader: Rezepte fürs Glück

Wie lebt es sich in einer europäischen Großstadt …

Man spürt es beim Blättern, wie ein gewisser Grad an Enttäuschung, Einsamkeit und Kälte so langsam zunimmt, wie ein Land sich immer mehr aufzulösen scheint in leeren Gesten, leeren Szenen, wie ein Schattentheater – nur der Autor scheint diesem Treiben mit Verblüffung zuzusehen, diesem fortwährenden Abschied und diese Verwandlung der Kulisse in ein groteskes Schattenspiel. Das Klare verwandelt sich vor den Augen des Betrachters in ein gespenstisches Halblicht, in dem “heldentaten” nur noch in Gänsefüßchen zu denken sind. “oder sag: herrschaften. genossinnen und genossen / diese sache kann ich nicht einfach so besingen / die beleuchtung ist schwach / die musik furchtbar / der lohn reicht kaum zum überleben.” (“Die Beleuchtung ist schwach.”)

Der “Umsturz” verwandelt sich – bei zunehmend schlechterer Beleuchtung – in Krieg, macht den Dichter zum Heimatlosen, verdrängt ihn in die Unsichtbarkeit. Das Land, in dem Zivlak dann seine Nachkriegs-Gedichte schreibt, ist ein anderes Land, von Misstrauen geprägt. “Der Krieg hat nie aufgehört. ich erinnere mich an die / Morgendämmerung, als ich das Haus verließ, er war überall. hinter / dem Türpfosten hielt er ein Beil …” (“Insel”)

Es sind keine hermetischen Gedichte, auch wenn der Herausgeber das glaubt. Hermetisch sind sie nur, wenn man diese Verstörung, dieses ganz poetische Misstrauen nicht kennt. Ein Misstrauen in eine Welt, die sich immer wieder nur als brüchiger Rahmen, als eine trügerische Szenerie erwiesen hat. “Das Leben geht weiter”, schreien andere, wenn ein Krieg zu Ende ist. Oder so getan wird als ob. Wo sind dann all die Kriegstreiber und Mitmacher geblieben? Welche Rolle spielen sie jetzt? Dass sie sich über Nacht in friedliche Menschen verwandelt haben sollten, glaubt einer wie Zivlak nicht: der Krieg ist “ein Wucherer, der mich zum Schuldner macht / eine Waffe, die tötet, bevor sie geschmiedet / oder eine Schlange, die hinschleicht, wo nicht ihr Platz ist.” (“Insel”).Er hat es ja erlebt, hat es heranreifen sehen, wüten, kreischen, abtauchen in die Dunkelheit. Und ist hinterher genauso einsam wie vorher. Das Leid, das er empfindet, die Verstörung, scheint er mit niemandem sonst zu teilen. Alles geht wieder seinen üblichen Gang. Als wäre nichts geschehen. In einem alten Kater erkennt er einen Vertrauten: “doch schnell erkannte er dass ich sein bruder bin / dass mein keuchen dem seinen ähnelt / und mein atem dem weinen gleicht …” (“Kater”)

Und was bleibt? – Eine unauslöschliche Verwunderung darüber, wie schnell die Zeitgenossen wieder in falsche Rollen schlüpfen, durchschaubare, wenn man so unerbittlich schauen kann wie der Dichter: “die Leute ohne Namen / die Frauen ohne Leidenschaft / … / und wenn du die Straßen durchschreitest – auf jedem Balkon / eine Handvoll Propheten / einige klettern auf eine Holzkiste nur um uns zu überragen / um uns von oben die Wahrheit in den Kopf zu trichtern / wohin du dich wendest überall Versprechungen …” (“Eisernes Gebiss”)

Die späten Gedichte verbinden sich problemlos mit den früheren. Die Welt, das Land haben sich verändert, er aber ist noch immer der Verblüffte, der weiß, dass die Wahrheiten, die er ausspricht, nicht viel nützen werden, denn der Kreis derer, die ihm zuhören, ist klein. “da sah ich dass sich auch mein bleiches Gesicht in / erstaunten Augen widerspiegelt / die aus dem Licht in den Schatten wichen aus dem / Trockenen in die Feuchte / ich sah dass die Zeit ein Gefäß ist und dass ich ein Junge / bin der alles sieht / und dass ich von allem beobachtet werde …” (“Abstieg”)

Das, was er sieht, sieht nicht jeder, weil es die Meisten nicht sehen wollen, sondern lieber den immer neuen Versprechungen nachlaufen. Was bleibt, ist die tägliche Selbstvergewisserung und der Rückzug auf den eigenen Blickpunkt, das eigene tagtägliche Tun, das Nicht-irre-machen-Lassen. Froh macht ihn das nicht. Ohren und Augen verschließen kann er ja nicht. “die über schnelles Kauen predigen / und die Katastrophen als Auge der Gerechtigkeit / sehen sich selbst als Richter / und als Wahrsager und als in der Finsternis Verirrte / und sie richten wie Sieger und beklagen such / wie Verlierer …” (“Unter Wolken”)

Das ist nicht nur Serbien. Das wäre wirklich ein Trugschluss. Es ist ein poetisches Nein, das die Trauer genauso einschließt wie die Kritik. Und es ist ein Nein, das auch da seine volle Gültigkeit behält, wo die allen Versprechen Glaubenden nicht wahrhaben wollen, dass die Lüge und der Krieg nur immer einen winzigen Schritt entfernt sind. Man muss es nur zu sehen bereit sein. Wie ein Junge “der alles sieht”.

www.l-lv.de

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar