Unter der Flut der Preise, die jedes Jahr zur Leipziger Buchmesse vergeben werden, gibt es seit 2004 auch einen mit dem schönen Namen "Prix des Lycées allemands". Anfangs beteiligten sich 200 deutsche Gymnasien an der Auswahl neuester französischer Jugendromane, mittlerweile machen weit über 300 mit. 2010 gab es eine Überraschungssiegerin: Die jungen Leser kürten den Roman "Orage" der in Belgrad geborenen Autorin Sonia Ristic.

Sie lebt als Theaterautorin in Frankreich. Ihr Heimatland Serbien und ihre Heimatstadt Belgrad hat sie vor über 20 Jahren verlassen. Als sie Belgrad 1995 noch einmal besuchte, erkannte sie die Stadt kaum wieder. Der Nationalismus, der Krieg, das Embargo, die NATO-Luftschläge hatten die Stadt und ihr Klima verändert. Ihr Buch ist auch ein zutiefst wütendes Buch. “Für meine Stadt, die sie zerstört haben, die Dreckskerle, mein Belgrad, durch Milosevic in Geiselhaft genommen, durch die Mafia der Kriegsgewinnler, durch das Embargo ausgehungert, ringsherum von der Welt abgeschnitten und trotzdem immer im Herzen der Welt …”, schreibt sie im Vorsatz. Bevor sie in einer kurzen Anmerkung klärt, aus welcher Position sie schreibt: “Ich schreibe aus dem Exil.”

Es ist trotzdem keine Anklageschrift. Auch wenn es eine Geschichte von Verletzungen ist – und eine über den Verlust der Heimat. Nicht einmal fünf Jahre hatten genügt, Serbien für eine ganze Generation junger Menschen zu einem fremden Land zu machen. Wer Anfang der 1990er Jahre die Chance nicht nutzte und vor dem aufkommenden Nationalismus ins Ausland floh, der wurde in diesen Krieg hineingezogen.Auch wenn Sonja Ristic betont, dass sie sich für die Geschichte jede literarische Freiheit genommen hat, steckt natürlich ein gut Teil ihres eigenen Lebens, Denkens, Fühlens in diesem Roman, der 2008 bei Actes Sud erschien. Die Originalausgabe zeigt einen kahl geschorenen Männerkopf von hinten. Das wirkt natürlich ganz anders als das eher wieder depressive Cover, das der Leipziger Literaturverlag nun entworfen hat für die von Mandana Mansouri geschaffene Übersetzung “Gewitter”.

Was schade ist: So verpasst man wirklich Chancen, auch mal ein Erfolgsbuch zu platzieren in einem sowieso schon ehrgeizigen und anspruchsvollen Programm. Und das hier könnte auch auf Deutsch ein Erfolgsbuch werden. Auch und gerade bei jungen Lesern. Denn die Geschichte, die Ristic erzählt, verknüpft ihre eigenen Emotionen und Erfahrungen mit einer – möglicherweise – erfundenen Liebesgeschichte um die junge Serbin Tamara, die mitten in den Nachkriegswirren von 1995 nach Belgrad zurückkehrt aus ihrem Exil in Paris, wo sie studiert – aber mit ihrer Vergangenheit nicht wirklich abgeschlossen hat.

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Das merkt sie schon am ersten Tag ihrer sehr abenteuerlichen Rückkehr nach Belgrad, an dem sie sofort wieder mitten drin ist in den alten Gefühlen. Dass ihr auch noch Bekannte aus verdrängten Jugendtagen unverhofft über den Weg laufen, sorgt von Anfang an dafür, dass das Verhängnis seinen Lauf nimmt. Es ist eine von jenen Obsessionen, die die Leser in den Bann schlagen – man schaut zu, wie sich zwei da in eine tiefe Leidenschaft verhakeln, wie es sie zueinander zieht und in eine Geschichte verstrickt, aus der sie sich nicht befreien können. Dass Alexander auch noch eine Rolle im kriminellen Milieu Belgrads spielt, macht die Sache noch komplizierter.

Und dass Tamara die Gespenster ihrer Kindheit mit sich schleppt, drängt sie erst recht in die Rolle der Rebellin, die auch deshalb nicht aus ihrer Haut kann, weil der frühe Tod der Mutter ihr Leben genauso überschattet wie die Abwesenheit des Vaters, der – wer hätte das gedacht – ein schöner Mann war, ein Künstlertyp, aber auch einer, dem die Frauen verfielen. Ein wenig ist auch Alexander so. Und es dauert nicht lange, da wird diese Leidenschaft zu einem Wechselspiel aus Flucht und Nicht-Fliehen-Können, Schutzsuchen und Rebellieren. Der Leser begleitet Tamara auf immer neuen Versuchen, dieser Leidenschaft zu entkommen. “Amour fou” nennen es die Franzosen. Und in der Regel gehen diese Geschichten – wie in Prosper Merimées “Carmen” – tragisch aus. Mal müssen beide so heillos ineinander Verstrickten dran glauben, oft ist es nur einer / eine von beiden. Oder der Autor wählt gleich die Perspektive des alten Mannes, der auf ein ganzes Leben zurückblickt, in dem er nie über die frühe Leidenschaft und ihren Verlust hinweg kam.

An einigen Stellen ist auch Tamara dicht dran, sich selbst zu verlieren. Und dabei weiß sie es auch noch, weiß, dass das alles mit Vernunft nicht viel zu tun hat. Raum genug also, mit ihr zu leiden und mit ihr zu bangen. Jede Flucht ist auch immer eine Flucht vor ihren eigenen Gespenstern. Auch wer im Exil lebt, schleppt die Schatten seiner Heimat mit sich. Da sind auch die üblichen Psychiater in der Regel überfordert: Wie heilt man das Trauma eines so komplexen Verlustes?

Die kleine Wahrheit an allen diesen Leiden-Schaften ist: Man wird sie nur los, wenn man ihnen entflieht. Wer ihnen nicht entfliehen kann, geht daran zugrunde. Und so geht auch diese Geschichte nicht ganz ohne Verluste aus, auch wenn Tamara den Weg zurück findet nach Paris und sich in den nächsten Jahren ein neues Leben und eine eigene Existenz aufbaut.

Erstaunlich, dass noch kein deutscher Jugendbuchverlag sich diesen Roman geschnappt hat. So ist er jetzt im Leipziger Literaturverlag gelandet, der damit sein serbisches Profil weiter stärkt. Mit einer Autorin, die so jung und betroffen erzählt, dass die Geschichte, die sie erzählt, nicht nur junge Leute in ihren Bann ziehen wird.

Die Kandidaten für den Prix des Lycées allemands 2014: www.institutfrancais.de/prixdeslyceens/?lang=de

Zum französischen Verlag Actes Sud: www.actes-sud.fr

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