Schon in Band 1 von "Der gekränkte Mensch" ging Große auf die überall sichtbaren Folgen dieses "Erfolges" ein, den die bürgerliche Gesellschaft da mit ihrem in den letzten 200 Jahren herangereiften Triumph eingefahren hat. Er sieht es beim Fahren mit der U-Bahn, auf den Straßen, aber auch im Internet tobt es sich aus, in der zunehmenden Wahlabstinenz, in einer in Arroganz versunkenen Politik.

Denn wenn das So-Sein alles ist, was Ziel und Sinn einer Gesellschaft ausmacht, dann gehört die Verletzung, die Beschämung, die Kränkung des Menschen als Grundlage dauerhaft dazu.

Und ein Paradoxon wird sichtbar. Denn all die Leute, die da zum Teil in aller Öffentlichkeit über andere, aus ihrer Perspektive schwächere (heißt: nicht angepasste) Menschen herziehen, tun das ja nicht aus der Position einer gelebten Fülle. Sie sind selbst gekränkte Menschen. Ohne den (bewussten) Verzicht auf einen wesentlichen Teil ihres Mensch-Seins hätten sie die Position nie erlangt, an der sie stehen. Manche halten das für einen selbstverständlichen Preis.

Doch wer sie dann trifft, merkt schnell, dass man es nicht nur mit eingeschränkten Menschen zu tun hat, die ĂĽber den größten Teil eines Repertoires menschlicher Gesten, GefĂĽhle, Denkräume, Erfahrungen und WĂĽnsche gar nicht mehr verfĂĽgen. Man hat es auch beim leichtesten Kratzen an der Oberfläche mit zutiefst gekränkten Menschen zu tun. Sie reagieren auch so – wĂĽtend, echauffiert, nervös, beleidigend, kränkend. Wer selbst zutiefst gekränkt ist, der wird selber zum Kränker.GroĂźe verbindet das philosophisch mit dem Christentum und seiner Vorarbeit, die den Menschen auch aus einer Welt des ganzheitlich erlebten Glaubens in eine Welt des Zweck-Strebens gefĂĽhrt hat. Der Mensch ist nicht mehr per se ein Gotteswesen, weil er lebt. Er muss sich beweisen. Der Zweck des Lebens ist auĂźerhalb der eigenen Lebenszeit gesetzt – und wer die Bedingungen nicht erfĂĽllt, wird ausgestoĂźen.

Es ist also durchaus auch ein Büchlein zum Langsamlesen, auch wenn die Miniaturen etwas länger und ausführlicher sind.

Und selbst heilige KĂĽhe des modernen Menschenbildes schnappt sich GroĂźe, dreht sie einmal um, und siehe da: Auch sie erzählen von einem zweckbestimmten und damit gekränkten Lebensentwurf. Das Wort “Selbstverwirklichung” zum Beispiel, das heuer herumgetragen wird wie eine Monstranz, tatsächlich aber fast immer nur meint: Anpassung an einen angestrebten Zweck, Fitmachen fĂĽr den als gegeben genommenen Wettbewerb der Fittesten. Man merkt schnell, wie das alles schon drin steckt – von der gewĂĽnschten Perfektionierung einer Gesellschaft (was in der Regel in die völlige Pervertierung der Gesellschaft mĂĽndet) bis hin zur Perfektionierung des eigenen Körpers und der eigenen Lebenszwecke. Woraus dann wieder die Werbung ihr unheimliches Potenzial bezieht: 99 Prozent der Werbung sind reine Heilsversprechen nach dem Motto “Das hier fehlt dir noch zum perfekten Leben …”

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Der Mensch ist logischerweise im gleichen Moment schon auĂźer sich, denn wenn Werbung, Markt und ein Ideal der Zwecke die Bilder einer Gesellschaft bestimmen, dann folgt die Logik der Mehrheit. Es ist wie beim Quoten-Strampeln der Fernsehsender: Alles richtet sich nur noch an den WĂĽnschen der größtmöglichen Zielgruppe aus. Die Ganzheit geht völlig flöten, die Vielfalt wird “aus KostengrĂĽnden” gestrichen.

So passen sich dann immer mehr Menschen an die rudimentären Ideale einer Minderheit an, oder das, was man so gern “kleinsten gemeinsamen Nenner” nennt. Mitsamt dem Heilsversprechen der Akzeptanz, der Aufnahme in den illustren Kreis der “Erfolgreichen”. Manchem reicht dazu schon der schöne Schein – das protzige Auto, das Haus im GrĂĽnen, die durchgestylte Schöne an der Seite (auch wenn sie nichts im Kopf hat und nicht mal kochen kann …).

Kränkung eingeschlossen, wie GroĂźe feststellt. Denn wer so auf seine eigene Ganzheit verzichtet, um sich ganz und gar diesem Bild des Erfolges anzudienen, der muss frĂĽhzeitig damit anfangen, sich selbst zu kränken, ganze Teile von sich selbst als “minderwertig”, ungenĂĽgend, unbrauchbar und unperfekt zu betrachten. Der moderne BĂĽrger passt sich an, indem er groĂźe Teile seines Selbst mit Verachtung straft und still legt. Das geht schief, muss schief gehen. Es tobt sich logischerweise in Verachtung aus – Verachtung all jenen gegenĂĽber, die sich dem Erwarteten so nicht angepasst haben oder anpassen konnten. Weil sie ärmer sind oder andere Lebensvorstellungen haben. Man lebt da so schein-behaglich in einer perfekten Welt – und reagiert mit zutiefst gekränkter Seele auf all jene, die die Perfektion stören oder gar in Frage stellen.Dazu gibt es ĂĽbrigens auch noch die zweite Form der “Sublimierung”: die Herablassung. Nicht nur in Ă„mtern und Behörden, wo sich ja bekanntlich das Gekränktsein in seiner veritabelsten Form ausgeprägt hat. Auch auf politischer Ebene. Mit der Arroganz desjenigen, der sich selbst aufs Tiefste gekränkt hat, um mit SchweiĂź und Tränen ĂĽber andere zu triumphieren, wird Verachtung dann zur politischen Pose. Man echauffiert sich, als wäre das eine zutiefst persönliche Beleidigung, ĂĽber “Minderleister”, “Sozialschmarotzer”, “DrĂĽckeberger”, “spätrömische Dekadenz”, und was der Injurien mehr sind.

Und wäre es nur das. Aber die Verachtung wird ja auch in Gesetzen manifest – bis hin zur Sanktion: Wer nicht bereit ist, amtliche Kränkung gehorsamst hinzunehmen, wird bestraft. Das Fegefeuer gilt schon all jenen, die nicht bereit sind, sich selbst von vornherein und umfassend selbst zu kränken.

Logisch, dass das Gekränktsein zum Dauerbefinden der ganzen Gesellschaft wird. Und dass dieselbe Gesellschaft, die eigentlich zutiefst leidet an ihrem eigenen Anspruchsdenken, dann trotzdem mit der selben Arroganz über andere Länder und Völker urteilt und herzieht.

Noch so ein Seitengedanke, den GroĂźe aufreiĂźt: Warum wehren sich die beleidigten und beschämten Völker nicht dagegen? – Oder tun sie es doch, nur wir verstehen in unserer gekränkten Arroganz nicht mehr, dass sie es tun? Denn was ist dieser auf den ersten Blick so fatalistische und scheinbar sinnlose “Terrorismus” eigentlich, der ganze Regionen in ErschĂĽtterung versetzt? Vielleicht doch – wie GroĂźe meint – eine sehr klare Reaktion auf die von den nordwestlichen BĂĽrger-Gesellschaften installierten “DemĂĽtigungsverhältnisse”. Was kann man ĂĽberhaupt noch tun, wenn alle MenschenwĂĽrde dem Marktwert unterworfen wird, und alles, was dem nicht genĂĽgt, mit Mitleidlosigkeit bestraft wird? Welchen Sinn hat Leben dann eigentlich noch, wenn man nicht auf die falsche Frage eingehen will: Welchen Wert hat es? – Bleibt am Ende dann nicht der Einsatz des eigenen Lebens als deutlichste Parteinahme gegen eine Welt, die die Kränkung zum Dauerzustand machen will?

Das Buch sieht mit 156 Seiten sehr dĂĽnn aus. Aber auch das, was hier kurz herausgefiltert ist, zeigt nicht alle Wege und Nebenwege, die GroĂźe geht. Er genieĂźt es unĂĽbersehbar, immer neuen Konsequenzen nachzusinnen, wenn ein Gedanke ihn dazu treibt.

Und Zeit dazu, über die allumfassende Wirkung einer zutiefst gekränkten Gesellschaft nachzudenken, ist es. Das ist nicht nur eine Frage für Psychotherapeuten, die dann all diese Deprimierten und Ausgebrannten auf ihre Couch bekommen. Es ist ein Thema für die Trüffelsucher unter den Denkern: die analytischen Philosophen. In Berlin lebt wieder einer.

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