Der Berliner Philosoph und Historiker Jürgen Große leistet sich einen Luxus, den sich heute kaum noch jemand leistet: Er lässt seine Gedanken schweifen. Und ist darin konsequent. Was ihm da einfällt, versucht er weder einer der üblichen Denkschulen anzupassen, noch dem, was man so Zeitgeist nennen könnte. Gäb's sowas überhaupt noch. Denn dazu gehört Geist. Aber auch das hat mit Großes erstaunlicher Analyse zu tun.

Denn das ist seine kleine Metaphysik natürlich auch. Und zwar zuallererst. Andere große deutsche Philosophen haben in der Regel versucht, ein ganzes System zu bauen – und dann versucht, die Wirklichkeit ihrem System anzupassen. Oder sie hineinzudeuten. Was nicht passt, wird eben passend gemacht. Oder man baut gleich ein System, das so flexibel ist wie der Markt, um einen anderen heutigen Großphilosophen mal nicht beim Namen zu nennen.

Wahrscheinlich braucht es diese philosophischen Großsysteme schon längst nicht mehr. Wahrscheinlich ist Philosophie sogar zu viel mehr in der Lage, als die Systemebauer je glaubten. Es ist, wenn sie so angewendet wird wie von Jürgen Große, ein Analyse-Instrument.Man fängt irgendwo an – etwa in der Nähe jenes Ideenfragments von Marx und Engels zur “Entfremdung”, und dann arbeitet man sich systematisch durch. Was Große schon im ersten Band getan hat mit der nur auf den ersten Blick verblüffenden Erkenntnis: Die modernen Gesellschaften in ihrer Perfektion funktionieren nur so perfekt, wenn Menschen bereit sind, auf ihre Ganzheit zu verzichten und sich – freiwillig – anpassen. Also nicht nur auf viele ihrer Träume, Wünsche und Ansprüche verzichten, sondern auch bereit sind, sich selbst als Ware zu betrachten. Nicht nur im alten Sinn von Marx und Engels – als “Ware Arbeitskraft”.

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Das würde nicht alles abbilden, stellt Große fest. Denn dann wäre ja die Welt noch halbwegs in Ordnung: Man läuft in den Betrieb, verkauft dort seine Arbeitskraft für 8 oder 10 Stunden, geht nach Hause und ist “wieder Mensch / hier darf ich’s sein”. Vielleicht liebt der Bürger Goethes “Faust” auch deshalb. Kann sein. Er liest die Verheißung aus den Zeilen – und nicht das Verhängnis.

Denn das trifft ja irgendwie nur auf den Arbeiter zu. Und der Rest? Der Bürohengst, der Kassierer, die Tippse, der Controller, die Barfrau, die Fernsehmoderatorin? – Verkaufen die auch nur ihre Arbeitskraft? Oder verkaufen sie nicht eigentlich sich selbst? Oder Teile von sich selbst? Und stehen sie nicht in einem Wettbewerb miteinander, indem sie ihre Teile marktkonform nicht nur anpreisen und verkaufen müssen, sondern solche verkäuflichen Teile auch bewusst herstellen? Ist das nicht der Grundcharakter einer Wettbewerbsgesellschaft, in der eben auch der einzelne Mensch unter dem Diktat steht, sich marktkonform zu verhalten? Heißt also: Sich selbst passend zu machen für den Wettbewerb.

Das ist hier nicht ganz die Begriffswelt, die Große benutzt. Aber mit der würde es sonst noch ein bisschen ausführlicher werden.Schon beim nächsten Schritt: Was passiert eigentlich mit Menschen, die so gezwungen sind, sich wettbewerbs-konform zu machen? Was ja nicht nur heißt, dass sie sich bilden und zehn Sprachen lernen und sechs Gabelstaplerkurse besuchen und bereit sind, so mobil und flexibel zu sein, wie es irgendwelche “Arbeitgeber” und “Jobcenter” verlangen. Es heißt ja auch, dass sie dafür auf wesentliche Teile ihres Menschseins komplett verzichten. Manche auf ihre Heimat, ihre Hobbys, eine Familie und Kinder, andere auf Berufswünsche, die ihnen viel lieber sind, auf Freizeit und Freiräume oder gar eigene Gedanken und Gefühle. Oder gar auf eigene Meinungen oder das Recht zum Philosophieren.

Manche merken es gar nicht mehr, weil sie darauf geeicht sind, ihre Einzelteile marktkonform zu gestalten. Was nicht nur auf Beruf und Karriere zutrifft, sondern längst auch aufs Privatleben. Wie beiläufig erwähnt Große den großen Markt der Partnerbörsen und der kompletten Verwandlung von Sex in Ware. (Auch in Kunst-Ware, wie derzeit im Leipziger Bildermuseum zu bewundern.) Denn augenscheinlich hat das Denken in Zweck und Wettbewerb längst dazu geführt, dass dieses Denken auch das (Liebes-)Leben der Bewohner der nordwestlichen Welt beherrscht. Sex gibt es nur noch als Leistungssport und höchste Erwartung – oder als Abgrund der niedrigsten Leidenschaften, die ihren eigenen Sog entfalten. Er wird zum Zweck – genauso wie Körper zum Mittel werden. Man trimmt sich ja nicht mehr nur, um auf einem von Leistungsdruck beherrschten Arbeitsmarkt mithalten zu können, sondern auch, um auch im Leben der Beste zu sein und das Beste zu bekommen. Zum Beispiel das Heilsversprechen: der beste Sex.

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Der gekränkte Mensch 2
Jürgen Große, Leipziger Literaturverlag 2013, 19,95 Euro

Sind nur die Frauen dafür anfällig, wenn sie all den Versprechen auf die Verbesserung, das Tuning ihres Körpers, ihrer Leidenschaften, Erlebnisse und (Liebes-)Erfolge hinarbeiten? Oder gehört nicht auch das Leistungsdenken der Männer hierher, bis hin zum Ersatz-Teil-Wettbewerb des sichtbar gemachten Erfolges: “Mein Haus, mein Auto, meine Golduhr, meine (verwöhnten) Kinder”?

Und was eigentlich richtet das in den Menschen an? Sind sie so? Hat die ganze Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft nur das Ziel, all diese Zwecke zu erfüllen? Den Menschen zu einem Wesen zu machen, das für das bloße Haben alles aufgibt, was es zu einem denkenden und fühlenden Wesen macht? – Oder ist das der Preis für eine Gesellschaft, die alle ihre Zwecke nur noch im Haben und im Jetzt definiert?

Spannende Fragen. Mehr dazu gleich an dieser Stelle.

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