Natürlich kommt dieser Mann auch in der Leipziger Universitätsgeschichte vor - im Band 1 hat ihm Manfred Rudersdorf einen Absatz gewidmet. Ansonsten ging er unter im großen Trubel um das Universitätsjubiläum 2009. Dabei hat Leipzig mit Georg Joachim von Lauchen, genannt Rheticus (oder Rhaeticus), eine der schillerndsten Forschergestalten des 16. Jahrhunderts, in seinen Mauern beherbergt. Am 16. Februar wäre Rheticus 500 Jahre alt geworden.
Geboren wurde er in Feldkirch im Vorarlberg als Sohn des Stadtarztes Georg Iserin, der 1528 als Hexenmeister angeklagt und enthauptet wurde. So begann die Neuzeit in Europa: mit einem durchgeknallten Papst Innozenz VIII., der den Hexenwahn in Europa erst anfachte und die Grundlage schuf für die Arbeit der beiden Hexenjäger Sprenger und Institoris. Nicht nur Frauen fielen diesem Wahn, der Europa für zwei Jahrhunderte ansteckte, reihenweise zum Opfer, sondern auch Menschen wie Iserin, die von ihren Mitmenschen der Zauberei bezichtigt wurden.
Stefan Hildebrandt hat in diesem Buch die Lebensgeschichte des Sohnes aufgezeichnet, erzählt aber auch notwendigerweise die kurze Lebensgeschichte des Vaters. Bis 1532 studierte der Sohn, der sich nach dem Familiennamen der Mutter de Porris oder wahlweise von Lauchen nannte, in der Schweiz, kam dort in Kontakt zum berühmtesten Arzt seiner Zeit, Paracelsus. 1532 ging er zum Studium nach Wittenberg, wo er natürlich in direkten Kontakt zu den führenden Köpfen der Reformation kam – Luther und (noch viel prägender) Melanchthon, der schnell erkannte, dass der junge Mann genau der Typus des modernen, aufgeschlossenen Forschers war, den er sich in seinem Bildungsideal erhoffte. Melanchthon war es, der den jungen Rheticus auf das Studium der Mathematik und der Astronomie lenkte und dafür sorgte, dass der nach seinem Magisterabschluss schleunigst eine Berufung als Professor bekam. Ein kleines Blitzlicht auf Melanchthons Strategie, aus der 1502 am “Rande der zivilisierten Welt” gegründeten Universität Wittenberg die führende Bildungseinrichtung in deutschen Landen zu machen.Doch Rheticus war in doppelter Weise der moderne Forschertypus. Er hatte schon nach zwei Semestern die Nase voll vom Lehren und nahm sich Urlaub, um auf (Bildungs-)Reise zu gehen. Nach Frauenburg, wo ein Astronom saß, von dem zu dieser Zeit nur Wenige gehört hatten, der aber gerade das alte Ptolemäische Weltbild umgestürzt hatte: Kopernikus. Die “Kopernikanische Wende” hätte durchaus noch ein paar Jahrzehnte später stattfinden können, wenn nicht Rheticus den Frauenburger Astronomen dazu bewegt hätte, sein Lebenswerk zu veröffentlichen. Was aber erst der zweite Schritt war. Denn das Werk war so komplex, dass es eigentlich einen Boten brauchte, einen Mann, der fähig war, die Grundthese so verständlich zu vermitteln, dass auch die zeitgenössischen Astronomen in der Lage waren zu verstehen, worin der Unterschied dieses neuen, heliozentrischen Weltbildes nun im Vergleich mit dem nach wie vor schulbestimmenden geozentrischen Weltbild des Claudius Ptolemäus lag.
Das schaffte Rheticus 1540 mit seinem Werk “Narratio prima”. Kopernikus Werk “De Revolutionibus” war zwar schon 1529 im Manuskript fertig, erblickte aber erst 1543 das Licht der Öffentlichkeit – durch die Vermittlung von Rheticus.Als der 1541 nach Wittenberg wechselte und 1542 einer Berufung an die Uni Leipzig folgte, war er schon ein berühmter Mann. Doch auch die Universität Leipzig konnte diesen Wissbegierigen nicht halten. Schon 1545 unterbrach er seine Leipziger Lehrtätigkeit wieder, um nach Italien zu reisen, wo er diesmal Kontakte zum berühmten Arzt, Astrologen und Mathematiker Cardano aufnahm. Unverkennbar steckt in diesem Rheticus viel von dem, was Goethe später seiner Faust-Figur zuschrieb. Die Faust-Gestalt der ursprünglichen Erzählung berichtet eher von einem Scharlatan und “Zauberkünstler”, der die Mitwelt mit seinen Kunststücken in Verblüffung setzte. Den modernen, auf Erkenntnis drängenden Forschergeist dichtete ihm erst Goethe an. Bei Rheticus war der aber zu finden. Aber auch die Leipziger vermochten die schillernde Gestalt nicht zu halten.
Mehrmals in seinem Leben erkrankte Rheticus, wegen Überarbeitung, wie es heißt. Er kannte keine Grenzen, wenn es um das Aufnehmen neuer Erkenntnisse ging. 1548, nach seiner Rückkehr nach Leipzig, veröffentlichte er seine “Dreieckslehre” und versetzte die Mathematik des ganzen Kontinents damit in Aufregung. Er schrieb Abhandlung um Abhandlung. “Schaffensrausch” nennt es Hildebrandt. Seine Schriften finanzierte er selbst, so dass er 1551 völlig überschuldet war, als er Leipzig verlassen musste. Möglicherweise auch wegen der Anzeige eines Bäckermeisters, die ihm möglicherweise einen Gerichtsprozess mit Todesfolge eingetragen hätte.
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1556 findet man Rheticus in Krakau, wo er eine regelrecht moderne Forschungsinstitution aufbaut, die er aus eigener Tasche finanziert. 1564 versucht ihn die Pariser Universität anzuwerben, 1571 findet er sich in Kosice in der heutigen Slowakei wieder, wo er sein am längsten wirksames Werk begann, das “Opus Palatinum de Triangulis”. Diese trigonometrischen Tafeln waren bis ins frühe 20. Jahrhundert in Gebrauch, bis so langsam die moderne Datenverarbeitung eine Automatisierung dieser Rechenprozesse ermöglichte.
Also wirklich ein Mann, den Leipzig durchaus feiern und würdigen sollte. Er gehört zu den wichtigsten Forschern, die je an der Leipziger Universität tätig waren. Dieses schmale Buch gibt diesem Mann, der sonst in kleinen Absätzen zu verschwinden droht, eine gewisse Kontur. Und erlaubt einen kleinen Blick in ein Jahrhundert, an dessen Horizont der Hexenwahn einer bildungsfeindlichen alten Zeit loderte, und in der dennoch mutige Forscher die Grenzen des offiziell Akzeptierten hinterfragten und begannen, die Grundlagen für eine moderne, von Wissenschaft revolutionierte Zeit zu legen.
Stefan Hildebrandt “Rheticus zum 500. Geburtstag”, Edition am Gutenbergplatz Leipzig, Leipzig 2014, 19,50 Euro
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