Das Jahr 2013 war ja wieder voller Berichte über Revolutionen und Proteste überall in der Welt. Fast hat man ja schon das Gefühl, seit jenem Herbst 1989 wären alle Völker in der Welt nur noch bemüht, durch allerlei bunte Revolutionen die finsteren Mächte der Vergangenheit zu stürzen. Aber wer entscheidet eigentlich darüber, was eine Revolution ist? Die Medien? - Beispiel Georgien.

Man hätte hier auch die Ukraine nehmen können oder irgendein anderes Land der einstigen GUS. Unabhängigkeitserklärung 1991. Sessionskrieg oder Georgien-Konflikt 1992. Militärputsch 1992. “Rosenrevolution” 2003, neuer Ministerpräsident mit 96 Prozent der Stimmen. Massenproteste 2007. Neuwahlen. Kaukasus-Konflikt alias Georgien-Krieg 2008. Immer wieder Zündstoff: die beiden Regionen Südossetien und Abchasien.

Und da wird dieses neue Buch aus dem Leipziger Literaturverlag ganz aktuell. Denn wer Abchasien auf der Landkarte sucht, findet es nicht nur am Schwarzen Meer – bis zum Austragungsort der Olympischen Winterspiele im Februar, Sotschi, ist es nur ein Katzensprung. Hinter dieser ganz speziellen Olympiabewerbung steckt auch ein bisschen Muskelspiel der russischen Republik, die in Georgien ihren Einfluss wahren will. Da treffen sich schon mal die Russische Schwarzmeerflotte und die Georgische Marine vor der Küste Abchasiens und lassen ein paar Böller los. Und in so einer Region veranstaltet man, als sei gar nichts los, Olympische Spiele?

Aber einer wie der georgische Schriftsteller und Journalist Beso Chwedelidze weiß natürlich, wie desinformiert die westliche Welt über fast alles ist, was im Osten Europas passiert, im Kaukasus sowieso, wo nicht nur diverse Pop-Sternchen gern vor regionalen Potentaten tanzen, sondern auch das legendär schwanenfedrige Fernsehballett. Georgien gehört dabei zu jenen Ländern, in denen die beiden Großmächte Russland und USA seit Jahren um Einfluss ringen. Seit Mitte der 1990er Jahren knistert es, denn seitdem hat Georgien eine Partnerschaft zum westlichen Militärbündnis NATO. Und als George W. Bush 2001 seine “Freunde” für den Krieg im Irak zusammentrommelte, war Georgien dabei.

An dieser Risslinie zwischen den Machtsphären hat es keine Regierung leicht. Erst recht nicht, wenn die über Jahre geschürten Konflikte auch die Wirtschaft des Landes beeinträchtigen.

Chwedelidze gehört zur jüngeren Autorengeneration des Landes, 1972 geboren, hat er schon zehn Bücher veröffentlicht und sich in Georgien vor allem einen Namen als Short-Story-Autor gemacht. Vier Erzählungen bietet dieser Band, den der Leipziger Literaturverlag wieder mit einem Subskriptionsmodell finanziert. Gleich in der ersten Geschichte entführt Chwedelidze den Leser in jenes ferne Georgien der Jahre 1992/1993, in der ein junger Journalist aus Warschau, der bislang nur eifrig die Kulturkolumne seines Magazins gefüllt hat, kurzerhand nach Moskau beordert wird, um schnell mal ein Interview mit dem georgischen Präsidenten zu machen. Den er verfehlt und dem er dann nach Tbilissi nachreist, um dann in einer schon kriegsverdunkelten Landeshauptstadt zu erfahren, dass ihm der Präsident wieder vor der Nase abgereist ist, also hinterher, der junge Mann ist ja abenteuerlustig und will seinen Auftrag erfüllen. Er landet mitten im Kriegsgebiet. Und gerade ist der letzte Flieger mit den letzten westlichen Journalisten abgeflogen.

Es ist eine kleine, beklemmende Geschichte auch über das Irrationale des Krieges. Blitzschnell ändern sich alle Maßstäbe, Recht und Gesetz gelten nicht mehr, nun gilt nur noch das Kriegsgesetz, verlaufen unsichtbare Fronten mitten durch die Dörfer, deren Einwohner niedergemetzelt werden bei jeder neuen Eroberung. Und Emotionen dürfen sich auch die Soldaten nicht leisten, denn Militärgerichte werden schnell zu Standgerichten. Und der junge Journalist aus Polen lernt, wie schnell sich jeder vertraute Zustand auflöst, wie selbst ein Baum voller roter Äpfel zum Schrecken werden kann – und eine Flucht nur noch im Flugzeug mit den getöteten Soldaten möglich ist. Nur die toten Helden werden noch ausgeflogen …
Am Ende ist nicht wirklich klar, ob es dem jungen Mann gelingt, dem Chaos zu entfliehen.

Auch in seinen anderen Geschichten spielt Chwedelidze mit der Ungewissheit der Wirklichkeit. In “Schwalben” ist es ein kleines ironisches Spiel mit der Frage: Was macht eigentlich der Autor, wenn seine Figuren so lebendig sind, dass sie nicht nur den Gang der Handlung übernehmen, sondern auch beginnen, dem Autor auf die Pelle zu rücken? Und was macht er, wenn er merkt, dass sein erfundener Held als Taschendieb so geschickt ist, dass er ihm sogar das Dope aus der Tasche klaut? Erleben dann seine erfundenen Figuren einfach ein ewiges tolles Leben auf quietschender Couch – oder könnte die Verzweiflung des aufs Trockene gesetzten Autors zum Problem werden?

Auch “Wiesenblumen” ist ein lustvolles Spiel mit den poetischen Möglichkeiten, die in einer einzigen Szene stecken – in diesem Fall der Begegnung des Helden mit einem alten Angler am Fluss, der ihn beim Gehen zur Vorsicht mahnt. Doch zu welcher Vorsicht? Was kann geschehen? – Eine Menge, wie man dann liest, jeder Monat des Jahres hält auch im fernen Georgien überraschende Begegnungen bereit. Und da der Held jung ist, sind es immer wieder Frauen, die ihm begegnen, solche, die ihn nur für Momente zum Handeln zwingen – doch im Moment steckt tatsächlich eine wichtige Entscheidung, solche, mit denen er Träume von einem gemeinsamen Leben träumt, die sich aber auch von Monat zu Monat verwandeln, aber auch Frauen, mit denen ihn alte Geschichten verbinden – und alte Verletzungen.

In poetischen Bildern spult sich dieses Jahr mit all seinen Jahreszeiten ab – und am Ende schließt sich der Kreis. War es wirklich nur ein Moment voller überschäumender Phantasie? Oder ist es wirklich passiert? Wer weiß das schon. Selbst wenn man das alles erlebt hat, wirken solche Begegnungen nicht weniger verstörend, einmalig, wunderbar oder verletzend.

In “Dorf Erdungen” erweist sich Chwedelidze dann auch als Meister der Parabel – hier landet der Held in einem abgeschiedenen Bergdorf, wo augenscheinlich seit ein paar Jahren ein seltsames Experiment abläuft, in dem ein Sendemast und die völlige Abhängigkeit der Dorfbewohner von ihren Mobiltelefonen eine wesentliche Rolle spielen. Doch irgendetwas hat auch die menschliche Gesellschaft und ihre Maßstäbe verändert – der junge Arzt fühlt sich wie in einem Irrenhaus – doch die permanente Überwachung hindert ihn an der Flucht.

Das moderne Georgien ist – mit all seinen politischen Bruchkanten – ein durchaus vertraut wirkendes Land. Es ist wie mit den vielen Autoren, deren Stimmen der Leipziger Literaturverlag aus dem einstigen Jugoslawien ins Deutsche übersetzen lässt: Das Fremde, Befremdende entpuppt sich beim näheren Betrachten als Teil einer sehr vertrauten Befremdung, die moderne Zeit als Kulisse für uralte Ängste und Leidenschaften. Und die Fragen, die sich auch die jungen Autoren Georgiens stellen, sind ebenso vertraut: Wie kommt immer wieder das Irrationale in eine doch scheinbar auf Ratio aufgebaute Gesellschaft?

Wird die Wirklichkeit nur absurd, weil eine Gesellschaft sich im Umbruch befindet? Oder sind tatsächlich die Irrationalitäten nicht das Unveränderliche, das gerade dann hervorbricht, wenn die Mehrheit schon wieder glaubt, man habe es geschafft, man habe das friedliche Ufer einer rational organisierten Gesellschaft erreicht? – Lauert das Surreale aus Chwedelidzes Geschichten nicht tatsächlich genau so in der scheinbar so friedfertig wirkenden Moderne? Verdrängen es die Meisten nicht nur und gehen über die frappierenden Momente lieber kommentarlos hinweg, eben das, was Chwedelidze in “Wiesenblumen” in den Augen all seiner geschilderten Frauen aufglimmen lässt, faszinierende Bilder, die auf den Punkt bringen, was eigentlich alles in den Gedanken der Menschen vor sich geht in all den scheinbar so banalen Begegnungen des Alltags.

Zur Kostprobe für alle, die Lust auf diese unverhofften Begegnungen haben, kann man sich ja vorstellen, wie es aussieht, wenn in ihren Augen “ein afrikanischer Skifahrer niest”, “Gauchos in der Pampa Tango” tanzen oder “wilde Mustangs” reiten? Vorgestellt? – Für Frauenliebhaber gibt es auch die anderen Bilder, wenn in ihren Augen “eine mannsgroße Heuschrecke ein Maisfeld” vernichtet oder “die Außenbezirke von Sarajevo” bombardiert werden.

Womit sich ja der Kreis schließt. Der Krieg beginnt nicht an Kabinettstischen, sondern ganz unten – in den Begegnungen (oder Nicht-Begegnungen) der Menschen. Oben wird dann nur noch – ganz rational – auf den Knopf gedrückt. Und ein friedliches Land verwandelt sich in die Hölle.

Beso Chwedelidze “Der Geschmack von Asche”, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2014, Subskriptionspreis 16,95 Euro.

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