Seit geraumer Zeit erleben auch die USA, wie das ist, wenn Entwicklungen enden, einstmals boomende Landschaften in die Krise geraten und Stรคdte sich entvรถlkern. Auf einmal bekommt auch dieses scheinbar so geschichtslose Land eine Patina - und wirkt dabei hilfloser als die alten Europรคer, die dieses Auf und Ab nun schon mit Dutzenden Weltreichen und Imperien hinter sich haben. Echter Stoff fรผr Dichter also.
Fรผr richtige Dichter, die noch hinschauen und sich verblรผffen lassen von dem, was sie sehen. Und es ist in den USA genauso wie in Deutschland: Reisen bildet, der Vergleich erst macht Vieles sichtbar. Und der 1982 in Boston geborene Paul-Henri Campbell hat den Vergleich. Er hat Philologie und Theologie studiert โ in Irland und in Frankfurt am Main. Er beschรคftigt sich auch mit Musik und Neuen Medien. Und er schreibt in zwei Sprachen. 2010 erschien der erste Band seiner Trilogie โSounding out Today/Die Gegenwart auslotenโ, damals noch in der edition exemplum. Band 2 erschien dann schon in Leipzig bei fhl: โSpace Raceโ.
Das hier ist nun Band 3. Und er knรผpft natรผrlich da an, wo โSpace Raceโ nicht aufgehรถrt hat. Wobei gerade โSpace Raceโ schon 2012 verwirrend wirkte: Es waren Gedichte auch รผber ein vergangenes Zeitalter, das Zeitalter der Weltraumfahrt und der Mondreisen. Erst die Landung des chinesischen Jadehasen vor wenigen Tagen machte wieder deutlich, wie lange her die us-amerikanischen Mondflรผge tatsรคchlich schon sind โ รผber 40 Jahre. Auch das damalige sowjetische Lunochod-Programm fand Anfang der 1970er Jahre statt. Und dann war Jahrzehnte lang Ruhe, Anfang der 1980er Jahre gingen die Amerikaner dazu รผber, ihre Weltraumprogramme zurechtzustutzen und das Geld in den Militรคrhaushalt umzuschichten.
Heute ist die NASA nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die groรen Symbole eines hochtechnisierten Zeitalters verwandeln sich vor den Augen der Zeitgenossen in Wracks und Museumsstรผcke. Das ist nicht nur mit den Space Shuttles so, das betrifft auch die alte รberschall-Legende Concorde, die wie die russische TU 144 mit mehr als doppelter Schallgeschwindigkeit die Entfernungen รผber die Kontinente radikal verkรผrzte. Doch das Ende der Concorde kam ja mit der Absturzkatastrophe von 2000. Auch das so ein seltsames Datum. Da hรคtte man doch glatt geschworen, der Concorde-Absturz bei Paris hรคtte nach dem 11. September 2001 stattgefunden. Die Bilder wirken frischer, nicht so inszeniert und museal wie 9/11.
Aber dem ist nicht so. Ein paar Concordflรผge fanden noch bis 2003 statt. Doch dann war fรผr diesen Spritfresser das Aus besiegelt. Campbell besingt dieses Symbol eines technikbegeisterten Zeitalters in einem ganzen Zyklus: โBeim Jungfernflug der Concorde, geflรผstertโ. Den hat er aber gar nicht miterleben kรถnnen, denn der fand schon am 2. Mรคrz 1969 statt. Womit wir wieder im Mondzeitalter wรคren. Das fand ja tatsรคchlich alles praktisch gleichzeitig statt. Am 21. Juli 1969 betrat Neil Armstrong als erster Mensch den Mond.
Und unten auf Erden feierten die Hippies das Zeitalter des Wassermannes und fuhren in groรen Blechkarossen รผber die Highways โ gebaut in Detroit. Die USA waren noch das Autoland Nummer 1 in der Welt. 2013 ist die einstige Hauptstadt des us-amerikanischen Autobaus in die Zahlungsunfรคhigkeit gerutscht. An die groรe Autogeschichte erinnern eigentlich nur noch der Spitzname โMotor Cityโ und das bekannte Plattenlabel โMotownโ. Na gut, General Motors sitzt noch in der Stadt โ braucht aber lรคngst nicht mehr die vielen tausend Arbeitskrรคfte, die einst nach Detroit strรถmten, um hier am Flieรband zu arbeiten.
Die Stadt selbst wird in einigen Teilen immer mehr zu einer Art modernem Pompeji. Fรผr einen Mann wie Campbell, der nicht nur die amerikanische Literatur kennt, sondern auch die klassische europรคische, ist es also nahe liegend, hier Vergleiche zu ziehen zu den wirklich alten Ruinenstรคdten in Europa und den klassischen untergegangenen Kulturen Griechenlands und Roms. Italien spielt fรผr Campbell eine wichtige Rolle. Und er zeigt, welche Assoziations-Fรผlle entsteht, wenn Dichter die Dichtungen der Welt und der Jahrhunderte kennen.
In โDetroiter Elegienโ verschmilzt er den Gesang auf die stillstehenden Flieรbรคnder in Detroit mit seinen Besuchen in italienischen (Ruinen-)Landschaften und der intensiven Beschรคftigung mit Rilke. Mit dem er รผbrigens ringt wie so viele andere Dichter auch, denn der Kerl klebt ja fest, seinen Tonfall wird man โ wenn man ihn erst mal im Ohr hat, nicht wieder los. Was fรผr Rilkes Qualitรคten spricht. Er ist prรคsent, lรถst Bewunderung und Verstรถrung aus. Und ergreift sogar so einen echten waschechten Amerikaner, der extra โRilkeexorzismenโ schreiben muss, um sich wieder zu befreien.
Was natรผrlich auch wieder eine intensive Beschรคftigung mit diesem Dichter ist. Der andere, eigentlich dominierende Fixstern in Campbells Kosmos ist nach wie vor Walt Whitman, der dieses Amerika vor 150 Jahren besang, als der Bau der groรen Tanker, Brรผcken und Werke ja erst begann. Er konnte nur ahnen, wohin das vielleicht fรผhren wรผrde. Campbell weiร, wohin es fรผhrte. Und bringt den Mythos Detroit auf eine einfache aber verblรผffende Formel: โDie Massenfabrikation des Glรผcksโ. Er verbindet das zwar mit den akrobatischen โStunden auf der Rรผckbankโ. Aber wenn man ein wenig nachdenkt aber das alles und den โamerican dreamโ im Besonderen, dann verkรถrpert nichts so wie die Massenfabrikation von Automobilen den Wunsch, die Sehnsucht der Menschen nach dem allumfassenden Glรผck zu befriedigen.
Paul-Henri Campbells Groรer Gesang auf das Zeitalter der Raumfahrt: Space Race
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Campbell hat ein Foto von Charles Northam aus dem Jahr 1955 mit in den Band genommen, das ein Begrรผรungsschild zeigt: โDetroit. The Renaissance Cityโ. Ein Foto, das verstรถrend wirkt 60 Jahre danach, als die Fassaden aus โSandstein, Porphyr und Marmorโ brรถckeln: โDein Niedergang ist ohne trรถstendes Risorgimentoโ, schreibt Campbell. Wieder Italien.
Italien auch im Erlebnis seiner eigenen Heimat: โOn the A-Train to Brooklynโ. Die Fahrt in die โunderworldโ wird fรผr ihn die (Nicht-)Begegnung mit Virgil, mit dem einst Dante die Kreise der Hรถlle erkundete. Doch wirklich รhnlichkeit mit Genua oder Florenz hat dieses New York nicht. Oder ist das nur die moderne Variante des Abstiegs in die Unterwelt? โ โโฆ this is not the Eternal City / angels pass from room to room / on high heels โฆโ
Einige der Zyklen hat Campbell wieder auf Englisch geschrieben. Er wechselt zwischen den Sprachen und den Welten und den Zeiten. Was die Vergรคnglichkeit auch des aus Stahl geschmiedeten Imperiums deutlicher macht. Das Gegenstรผck zum โJungfernflug der Concordeโ ist zum Finale die โGeneralรผberholung der USS Kitty Hawkโ 1987 auf dem Philadelphia Naval Shipyard. Wieder wird dieser Whitman-Ton hรถrbar, das Fasziniertsein von diesem Giganten der Meere, der gleichzeitig ein Totenschiff ist, 1957 gebaut, 1961 in Dienst gestellt und dann im Vietnam-Krieg eingesetzt. Die Generalรผberholung 1987 war so eine Art kurze Heimkehr, bevor sie in den diversen Kriegen am Golf zum Einsatz kam und 2009 โ das erzรคhlt Campbell natรผrlich nicht mehr โ auรer Dienst gestellt wurde. Er bannt diesen Moment auf der Werft 1987 ins Bild, ein abgetakelter Stahlkoloss im Trockendock. โDeine Matrosen sind mรผde von alledem / Und doch genรผgt der rhetorische Ansturm / gegen den Feind oft nur, / um im Abendprogramm zu wettern โฆโ
Am Ende der Zeilen
Paul-Henri Campbell, fhl Verlag Leipzig 2013, 14,00 Euro
Bleibt noch das Rรคtsel des Titels. โEnd of the Daysโ heiรt auch das Bild von Aris Kalaizis, das fรผr das Cover ausgewรคhlt wurde. Und das Ende einer รra besingt Campbell ja, der รra der Pacemaker (โPacemaker Poemโ), die irgendwo bei Virgil begann und jetzt selber als eine Welt aus Grรคbern und Torsi dasteht, โand centuries fertile with lore and allegory have passedโ. Und nun? โ โPosthumous Renaissanceโ heiรt dieser Text, der dem Gesamtzyklus natรผrlich eine sehr nachdenkliche Note gibt, wenn das Streifenhรถrnchen am Grab Dantes in Ravenna erwacht.
Der Band hรคtte also mit gutem Recht โAm Ende der Zeitenโ heiรen kรถnnen. Aber irgendwie ist dann โAm Ende der Zeilenโ draus geworden, als wollte Campbell nach diesem Band nun aufhรถren an seinem groรen Gesang zu arbeiten. Aber auch Whitman konnte ja nicht aufhรถren mit seinen โGrashalmenโ.
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