Am Anfang so mancher Projekte steht oft ein höchst verrückter Vortrag. Ein solcher muss es gewesen sein, den Aleida Assmann 2009 an der FU in Berlin-Dahlem hielt: "Lesen als Kippfigur". Es ging darin um die bildproduzierende Macht der Imagination. Jaja, diese komische Vorstellungskraft, die einige Leute haben, andere nicht. Und manche haben zu viel davon. Kurt Mondaugen und Udo Hagedorn zum Beispiel.

Sie saßen beide damals in diesem Vortrag und hatten danach eine Idee. Eine Idee zu einem halb wissenschaftlichen Experiment. Etwas schärfer noch als das von Assmann zitierte Beispiel einer Geschichte von Joseph Eichendorff, in der ein Landschaftsgemälde die Hauptrolle spielt. Sie wollten noch eins drauf setzen: Passiert so etwas auch mit abstrakten Gemälden? Eine echte Kunstfrage. Bei romantischen Landschaftsgemälden à la Caspar David Friedrich weiß jeder, woran er ist, steht davor und kann sich auch hineinversetzen in das Bild und die Landschaft, wenn die Kinder nicht quengeln oder die durchdrängelnden Touristengruppen nicht schubsen.

Seit den Impressionisten hat ja die Kunstwissenschaft damit ein Problem. Auch wenn man sich in impressionistische Gemälde auch noch hineinversetzen kann. Aber mit all den abstrakten Stilformen der Moderne geht das nicht mehr. Das Extrem war ja der Herr namens Kandinski, der den Zuschauer gleich ganz mit einer leeren quadratischen Fläche konfrontierte: Nun mach mal.Die Erfahrung des 20. Jahrhunderts zeigt: Selbst schwerreiche Kunstsammler machten und kauften sich den ganzen Bembel zusammen. Muss also Kunst sein. Doch die Versuche von Tausenden Kunstwissenschaftlern, dieses neue Kunstschaffen irgendwie zu analysieren, enden in der Regel mit Katalogtexten, die noch viel leerer und nichtssagender sind als die (nicht-)erklärte Kunst.

Also was? – Ausprobieren, sagten sich Hagedorn und Mondaugen, der eine Maler und Konzeptkünstler von Beruf, der andere Philosoph, Autor und Performer aus Leipzig. Ein studierter noch dazu. Was dann dazu führte, dass sie vor dem Experiment erst einmal ein “Arbeits-Manual” schrieben. Dann telefonierten sie herum und überredeten 13 Autoren aus Berlin und Leipzig, sich ein Bild von Udo Hagedorn ins Zimmer zu hängen. Ein abstraktes natürlich. Drei Wochen sollte es jeder Freiwillige mit dem Bild aushalten und dann – anhand des Manuals – einen Text schreiben, in dem Wort und Bild verschmelzen. Kurt Mondaugen beschreibt das fluchende Zerfetzen des mitgelieferten Manuals durch einige Beteiligte zwar als eine Art schöpferische Renitenz. Aber die Wahrheit ist: Selten hat ein Bursche, der selber Texte schreibt, die Arbeit eines Autors so gründlich missverstanden.

Eigentlich war das schon ein Experiment im Experiment: die (missglückte) Hochzeit von Wissenschaft und Literatur.

Was die 13 Autorinnen und Autoren aus dieser halb erzwungenen Begegnung mit einem abstrakten Gemälde gemacht haben, ist in diesem Buch nachzulesen. Einigen Texten ist der quälende Kampf mit dem Manual noch ganz gut anzusehen. Mit dem Bild selber kamen die meisten ganz gut zurecht. Denn gewitzte Autoren brauchen nicht wirklich eine heimelig gemalte Landschaft mit Eichen, Kühen und Abendnebel, damit ihre Phantasie zündet. Im Wesen sind sich Maler und Dichter näher verwandt, als es sich ganze Kunstfakultäten je träumen lassen. Aber so ist das mit Wissenschaftlern: Sie versuchen die Dinge zu abstrahieren – und wundern sich hinterher, dass alle Welt mit den abstrahierten Gemälden was anfangen kann – nur mit ihren Texten dazu nicht.

Das findet man auch in diesem Bändchen – bei den zwei, drei Autoren, die irgendwie versucht haben, diesem komischen Manual gerecht zu werden (und das die Herausgeber im Anhang dem Buch beigefügt haben, damit auch der Leser sieht, warum das Experiment da und dort und eigentlich insgesamt schön schief gegangen ist).Die Cleveren unter den Freiwilligen haben das Bild, das ihnen da für drei Wochen in die Wohnung geschleppt wurde, behandelt, wie sie alles behandeln, was ihnen im Leben als Autor unterkommt: als Denkansatz, Imaginationsfeld, Traumfläche, Anfang eines Fadens, aus dem sich eine Geschichte entspinnt. Bestenfalls eine, für die man den Autor schon kennt – mit Esprit und überbordender Phantasie. Was gleich bei Roman Israel beginnt mit seinem Ausflug in antarktische Eiswüsten (“White Out”) und mit Sonia Petners “Sommerfest” munter so weiter geht, bei Julius Fischer und André Herrmann wird gleich eine pointierte Diskussion über abstrakte Kunst, Kunstmarkt und den nötigen Alkoholisierungsgrad bei Kunstdiskussionen draus, Jan Kuhlbrodt macht einen Ausflug mit Kaiser Friedrich ins mittelalterliche Italien draus, Radjo Monk versucht, das Bild auf einer persönlichen Ebene zu knacken – dem es sich freilich zu verweigern scheint.

Womit man an dieser Stelle zumindest schon einmal gelernt hat: Nicht jedes abstrakte Gemälde freundet sich mit Jedem an. Da muss Jeder schon selber suchen, welches abstrakte Werk zu einem passt (was übrigens auch auf die nicht-abstrakten Werke zutrifft, nur so nebenbei …). Und mit Stephan Sarek wird das Experiment schon auf eine erste Spitze getrieben. Auf seine gewohnt satirische Art schildert er, wie ein im Fundus verstaubendes No-name-Werk durch die richtige Präsentation in der Öffentlichkeit zum Star wird. Wahrscheinlich hat er das Manual gar nicht erst gelesen, sondern sich gleich ans Eingemachte gemacht – mit durchaus erhellenden Einsichten zum modernen Kunstbetrieb.

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Eiswüste und Asphaltblut
Kurt Mondaugen, Udo Hagedorn, Leipziger Literaturverlag 2013, 16,95 Euro

Jede Autorin, jeder Autor, die sich bereitgefunden haben zu diesem Experiment, geht eigene Wege, sich das Bild als Aufhänger, Schlüssel, Nagel, Imaginationsfläche zu erschließen. Es kommt Nachdenkliches dabei heraus, Fabelhaftes und Wild-Fabuliertes. Was auch schon zeigt, wie reich moderne Schreibweisen sein können. Und es zeigt auch, dass jedes Experiment, das versucht, auch nur ein Dutzend Autoren auf eine einheitliche Arbeitslinie festzulegen, scheitern muss.

Dieses Experiment – ursprünglich “Die Hochzeit von Text und Bild” betitelt – ist zum Glück gründlich gescheitert.

www.kunsthalle-hagedorn.de

www.kurt-mondaugen.de

www.l-lv.de

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