Nun ist's genug. Eigentlich. Oder doch nicht? - So recht weiß das auch Ekkehard Schulreich noch nicht, der jetzt den vierten Band seiner "Dölitzer Lebensbilder" vorlegte. Eigentlich hat der Autor das Gefühl, dass 80 Porträts über seine geliebten Dölitzer erst einmal genug sind. Das hat sonst kein anderer Ortsteil in Leipzig, so ein Mammutwerk.

Aber der Zweifel steckt in Schulreich, der ja außerhalb seiner Bucharbeit professioneller Journalist ist. Und Journalisten haben so eine Witterung, wenn irgendwo noch unerzählte Geschichten herumliegen. Und die Witterung sagt Schulreich: Da ist noch was. Also setzt er vorsichtshalber keinen Punkt, sondern lieber einen Haken. Man kann sich ja auch mal von sich selbst überraschen lassen.

Eigentlich war ja schon der 2007 vorgelegte Band eher ein Testballon: Funktioniert das? Interessiert das irgendwen? Wollen die Dölitzer wirklich wissen, welche Lebensgeschichten ihre Nachbarn zu erzählen haben? Oder kennen sie das alles schon? – Sie wollten. Die ersten beiden Bände “Lebensbilder” aus Dölitz sind vergriffen. Sie haben etwas geschafft, was es so in Leipzig noch nicht gab: einem ganzen sonst eher am Rande liegenden Ortsteil ein Gesicht zu geben und eine Geschichte. Eine etwas andere Geschichte als die übliche, die dann in Chroniken auftaucht, wo es dann meist um Schlachten, Fürsten, Revolutionen und ähnliche große Dinge geht.

Die kleinen Dinge kommen dort fast immer zu kurz. Die Menschen werden zu Schachfiguren auf den Spielfeldern der Übermächte. Was sie selten sein wollen. Aber wer fragt sie danach? – Auch über Dölitz sind die großen Unwetter des 20. Jahrhunderts hinweggefegt. Das ist so ungefähr der Zeitraum, den Menschen erinnern können: ein Jahrhundert. Da sind auch Eltern, Großeltern und Urgroßeltern oft noch verortet und lebendig, verknüpfen sich die alten Fotoalben, Briefe und Erinnerungsstücke mit der eigenen Kindheit, Schulzeit, Arbeit, Liebe, Ehe, Scheidung und Abschied. Hier ist alles dabei.Und vor allem: Wenn Menschen sich erinnern, gehört das alles auch zusammen – die Erinnerung an die Bombennächte 1943/1944, die auch in Dölitz Schäden anrichteten, an die kargen Zeiten danach und die Kreativität der damals Erwachsenen, die aus dem Wenigen trotzdem etwas machten und vor allem ihren Kindern eine möglichst sorglose Kindheit bereiteten. Ein bis heute lebendiger Topos in der Dölitzer Erinnerung ist die Freiluftschule auf dem Gelände des Dölitzer Schlosses, das kurz nach dem Krieg noch stand, dann aber abgerissen wurde. Eine Bombe hatte es zu schwer beschädigt.

Ekkehard Schulreich hat es auch bei diesen 20 neuen Porträts so gemacht wie bei den 60 davor – hat sich mit seinen Gesprächspartnern verabredet und geduldig zugehört, nachgefragt, die Dinge in ein Bild gefügt. Denn wo in den vorhergehenden Bänden erste Fäden zu einigen besonderen Geschichten sichtbar wurden, hat er nun anknüpfen können. Etwa was das durch Goethes Briefe sogar weltberühmte Anwesen von Adam Friedrich Oeser in Dölitz betrifft, dem Leiter der Leipziger Malakademie, wo Goethe das Zeichnen lernte. Jahrelang herrschte ja sogar Ungewissheit darüber, wo man es in Dölitz hätte suchen müssen. In diesem Band nun erzählen gleich zwei darüber, was aus dem einst direkt an der Mühlpleiße gelegenen Grundstück geworden ist – Bauingenieur Bodo Schroth und Dr. Sabine Winkelmann.

Natürlich erzählen sie nicht nur über das Grundstück und die Spuren des Oeserschen Lebens, sondern auch über ihren eigenen Werdegang. Mit all den Höhen und Tiefen, die die Umbrüche des 20. Jahrhunderts für sie bereit hielten. Ganz ähnlich gelagert sind die drei Lebensgeschichten, in deren Mittelpunkt die Rettung und Wiederbelebung der Dölitzer Wassermühle steht, die sich in den letzten Jahren zu einem Zentrum alternativer Lebensentwürfe entwickelt hat – samt Waldkindergarten.Aber auch Erinnerungen an die alten Dölitzer Gärtnereien rücken wieder ins Bild – immerhin ein wichtiges Stück Dölitzer Wirtschaftsgeschichte. Jahrhundertelang waren es die Dörfer rund um Leipzig, die die Stadt mit Obst, Gemüse und Blumen, immer wieder Blumen belieferten. Das war sogar noch bis 1990 so, bis die mit der D-Mark hereinflutende Billigproduktion “aus dem Westen” den Kleinunternehmern auch in Dölitz die Wirtschaftsgrundlage entzog.

Viele mussten sich nun verdingen – und das in einer Zeit, in der in Leipzig zu Zehntausenden die Arbeitskräfte freigesetzt wurden. Wieder war Einfallsreichtum gefragt. Und ein Lebenswille, der auch das eigene Selbstbewusstsein stärkte. Etliche dieser Älteren hier im Buch erzählen, wie sie nicht aufgaben und zum Teil auch mit erstaunlichen Hobbys ihre Lebensfreude aufrecht erhielten. Wer hätte auch gedacht, dass Dölitzer Senioren noch immer an Motorradweltmeisterschaften teilnehmen?

Wer fragt und neugierig ist, der findet Staunenswertes. Erfährt auch Geschichten, die eigentlich selbst nur noch Geschichte sind – von den alten Wirtshäusern im Ort und dem Leben der einst ortsbekannten Wirte (die auch schon mal schlafen gingen, wenn ihre Gäste noch weiterfeiern wollten – in Dölitz war so etwas möglich). Man erfährt von den einst ortsbildprägenden Geschäften, die von cleveren Unternehmertypen geleitet wurden und auch vom wohl derzeit berühmtesten Dölitzer, Dr. Horst Saalbach, der als Unternehmensberater einst zwischen Washington und Moskau vermittelte und heute ein wichtiger Förderer der HTWK Leipzig ist. Man erfährt von Dölitzer Originalen wie dem Maler Alexander Mende, dem “Grafen von Dölitz”, von einer Gärtnerstochter, die im Krieg als Blumenmädchen gefragt war.

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Deutlich wird, wie sich die Ebenen verflechten, wie große und kleine Geschichten ein ganz besonderes Muster weben, in dem Kinder aufwachsen und jenes Bezugssystem entwickeln, das irgendwann die Wolke Heimat ergibt. An der man hängt, eben weil all diese seltsamen Dinge präsent sind – die auf der Straße verstreuten Kohlen aus dem Schacht Dölitz, die großen Landwirtschaftsschauen auf der Agra, die rumpelnde Wäscherolle im Keller, der Milchwagen und der Kaffeeplausch im Garten.

Auch dieser Band ist wieder mit Fotos gespickt – etlichen davon aus alten Familienalben. Es mischen sich die Erinnerungen der Alten, die hier einst noch in beengten kleinen Wohnungen in billigen Mietshäusern aufwuchsen, mit den Geschichten der Jüngeren, die den Ort verändern und neue Ideen umsetzen. Ein Ortsteil verändert sich. Für den Tag vielleicht kaum auffallend, über die hier vertretenen drei Generationen hinweg schon deutlich sichtbar. Alles fließt, das gilt auch für Dölitz, auch wenn die Mühlpleiße begradigt und von den einst regelmäßigen Hochwassergeschehen abgekoppelt wurde.

Und da alles fließt, ist ziemlich sicher, dass auch in dieser Ecke Leipzigs neue Geschichten geschehen und nachwachsende Generationen was zu erzählen haben. Zeit hat Ekkehard Schulreich jede Menge. Er kann warten, bis ihm sein Gefühl wieder sagt, dass es wieder so weit ist, an Dölitzer Türen zu klingeln. Vorstellen muss er sich wohl nach diesen vier Bänden nirgendwo mehr. Er ist längst selber Teil der Dölitzer Geschichten.

Ekkehard Schulreich “Dölitzer Lebensbilder”, Band 4, Pro Leipzig, Leipzig 2013, 14 Euro

www.proleipzig.eu

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