Sie sind ein wenig aus dem Blickfeld geraten, die Leipziger Sagen, in denen es wimmelt von Nixen in der Pleiße, Kobolden, Drachen und glänzenden Schätzen. Dann und wann tauchen sie wieder auf als "Alte Leipziger Sagen. Neu erzählt" (1990), "Sagen und Bilder aus dem Leipziger Land" (1998) oder "Leipziger Sagen und Legenden. Geschichte und Stadtsagen Leipzig" (2009). Gleich 84 Stück hat Timo Wildt gesammelt für "Die Leipziger Sagen" im bookra Verlag.
Der von Florian Illerhaus gegründete bookra Verlag gehört zu den jungen, unabhängigen Verlagen in Leipzig. Einen Titel, der durchaus mehr Aufmerksamkeit verdient hätte, hat er mit “‘Islamkritik’ bei Thilo Sarrazin – eine religionswissenschaftliche Untersuchung” schon platziert. Ein Buch, das die Thesen, die Thilo Sarrazin in seinem Buch “Deutschland schafft sich ab” vorbringt, wissenschaftlich untersucht – auch die scheinbar islamkritischen Thesen, die Sarrazin vertritt. Immerhin hat Illerhaus Religionswissenschaft studiert. Er weiß, wovon er redet. Sarrazin weiß es nicht wirklich. Will es wohl auch gar nicht wissen. Er dümpelt wie eine ganze Reihe deutscher Polemiker in einem Wasser, das irgendwie ein bisschen wissenschaftlich aussieht, einer wirklich wissenschaftlichen Analyse aber nicht standhält. Also weicht er dieser Diskussion aus.
Kinderbücher hat der bookra Verlag auch schon vorgelegt, die Rekonstruktion eines Mondkalenders, wie ihn möglicherweise die Germanen benutzt haben, ein Buch über die islamische Adoptionsform Kafala. Und nun ein Buch mit Leipziger Sagen. Einen Kobold und einen kleinen Drachen hat die Gestalterin Daniela Seitzer auf dem Cover in eine Stadtlandschaft aus dem 18. Jahrhundert hineingezaubert (ganz genau: Johann Alexander Thieles “Leipzig, von Lindenau aus gesehen” von 1730). Man muss sich tatsächlich in eine andere Zeit hineinversetzen und in ein anderes Leipzig, eines, das noch von Wäldern umgeben war. Was heute Ortsteile sind, waren anno dazumal noch kleine Dörfer, die man über baumbestandene Landstraßen erreichte, westlich der Stadt dehnten sich Überschwemmungsgebiete, durch die sich die Elster und dutzende Seitengewässer schlängelten. Ein nicht ganz ungefährliches Terrain. Ertrunkene gehörten bis ins 19. Jahrhundert zum Alltag in Leipzig.Und so ist auch der Zeitpunkt nicht unwichtig, an dem die Leipziger Sagen gesammelt wurden. Denn die Arnim, Brentano, Grimm und Bechstein hatten schon recht, als sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts loszogen und die mündlich tradierten Märchen und Sagen aus deutschen Landen sammelten und veröffentlichten: Mit der zunehmenden Alphabetisierung ging auch die Zeit des mündlichen Erzählens zu Ende. Wobei die genannten Herrn noch nicht einmal ahnen konnten, was die heutigen Massenmedien anrichten würden. Aber auch andere Entwicklungen zerstörten für immer die Welt, in der Hexen, Zauberer, Kobolde und Nixen ihr Zuhause hatten – die Industrialisierung der Städte allen voran.
Es ist auch im direkten und wortwörtlichen Sinn das, was vor der Massenzeitung, Radio und TV noch Volksmund war. Es webt in allen diesen 84 Geschichten, die Timo Wildt aus den wesentlichsten Sagensammlungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zusammengetragen hat – aus Gräßes “Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen”, aus den von den Grimms gesammelten “Deutschen Sagen”, aus Meiches “Sagenbuch des Königreichs Sachsen”, aus Bechsteins “Deutschem Sagenbuch”, aus Zincks “Leipzigs Sagen …” und aus Siebers “Sächsische Sagen”. Auch Kleines und Kleinstes dabei, das zuweilen mehr verrät über die Entstehung einer Sage als die später von den Dichtern des 19. Jahrhunderts so kunstvoll neu erzählten Sagen.
99 besondere Seiten: Leipzig mit den Augen Henner Kottes entdecken
Leipzig ist eine Wunderkiste, ein Klein-Paris …
Das religiöse Leipzig: 1.000 Jahre Glauben, Streiten, Reformieren und Opponieren
2012 war das, da stellten die Akteure ….
Nicht ohne unsern August: 30 Sächsische Mythen unterm Mikroskop
Die Einleitung von Matthias Donath …
Geschichten aus dem Schwemmsandland: 32 kleine Geschichten über Trolle, Parthe und Schönefeld
Eigentlich sind Trolle eher im skandinavischen …
Denn im Urgrund erzählen alle diese kleinen Geschichten davon, wie sich reale Ereignisse in der Überlieferung in dunklen Küchen, Stuben, Kammern verändern und verwandeln. Denn wo “moderne Medien” fehlen und auch historische Ereignisse zumeist nur in Urkunden und Chroniken ihren Niederschlag finden, da entstehen ganz eigene Mechanismen, wie aufregende Ereignisse und unerklärliche Vorgänge vom Volk erklärt und weitererzählt werden. Und so trifft der Leser in diesem Buch nicht nur einige der Legenden wieder, die auch heute noch gewiefte Stadtführer gern ihren Gästen erzählen – vom Hufeisen an der Nikolaikirche und dem drachenjagenden Ritter Georg, über den Fassritt des Dr. Faust bis hin zu der Schwester jener entflohenen Georgen-Nonne, die sich an ihrer Stelle töten ließ, was dann der Heiligen Brücke ihren Namen gab.
Hinter vielen der hier versammelten Sagen lässt sich ein konkreter historischer Vorgang entdecken, der mittlerweile auch ausführlich und anhand der aktenkundigen Faktenlage in wissenschaftlichen Arbeiten zu finden ist – etwa dem jüngst erschienenen Sammelband “Das religiöse Leipzig”. Womit man bei einer weiteren wichtigen Quelle der Sagen wäre: der Religion, die eben nicht nur Jahrhunderte lang gesellschaftsprägend war. In den Volkssagen finden sich viele der in Kirchen und Predigten erlebten religiösen Elemente verwandelt wieder – vom Wandeln der Heiligen über den mythischen Drachen bis hin zum ewig seine Seelen verführenden Teufel. Und es scheinen nicht einmal die älteren Glaubensvorstellungen zu sein, die sich hier wiederfinden, sondern die jüngeren aus der Nach-Luther-Zeit, die auch in ihren Teufelsaustreibungen, ihrer Hexenjagd und ihrer Verehrung wundertätiger Quellen eine sehr abergläubische Zeit war. Viele Sagen handeln direkt im Zeitfeld des Dreißigjährigen Krieges, der in seiner Dimension auch nur verständlich wird, wenn man diese hier sich widerspiegelnde Irrationalität mitdenkt.
Denn wo es keine rationalen Maßstäbe und keine der Ratio verpflichtete öffentliche Berichterstattung gibt, da sind dem Tanz der (Polter-)Geister, Hexen, Wettermacher und Wassermänner keine Grenzen gesetzt. Im Gegenteil: Selbst die unbegreiflichen Vorgänge in der politischen Wirklichkeit werden mystifiziert und mit dem Eingreifen mystischer Mächte erklärt – wie die Umkehr Tillys vor den Toren Leipzigs, nachdem er schon Magdeburg in Schutt und Asche gelegt hatte. In großen Teilen spiegelt sich in den Sagen das Leben des einfachen Volkes wieder – der Mägde, Knechte, Müller, Schuster. Man erlebt ihre Welt und ihr Leben in durchaus armseligen Verhältnissen und alten, knarrenden und unsicheren Häusern, aus denen das Leipzig des frühen 18. Jahrhunderts ja noch bestand. Ein Leipzig voller Widersprüche, was in der Sage von den Kobolden in Auerbachs Hof besonders deutlich wird. Denn der frappierende Reichtum der Leipziger Handelsherren war dem einfachen Volk eigentlich nur dadurch erklärlich, dass sie in ihren Häusern reichmachende Kobolde hatten – während die Armen einfach Pech hatten, weil bei ihnen nur arme Kobolde hausten.
So kommt es auch zu den vielen Schatz-Sagen, denn wie anders sollte man als armer Müller oder Handwerker zu Reichtum kommen, wenn man nicht zufällig ein Zauberbuch in die Hand bekam und Teufel oder Geister beschwor? Manchmal waren sagenhafte Geschichten auch einfach der Versuch, alte Flurnamen oder Straßenbezeichnungen zu erklären. Manchmal haben sich auch alte Stadtbilder darin erhalten, für die das Volk phantasievolle Erklärungen gesucht hat. Im Grunde also eine Menge Stoff für ganz unterschiedliche Forschungsbereiche.
Die Leipziger Sagen
Timo Wildt, bookra Verlag 2013, 9,90 Euro
Unter anderem auch die Kommunikationsforschung. Ein Thema, wie es auch heute noch gilt: Wie bilden sich Erklärungsmuster und Erzähltraditionen? Hier: Wie verändern sie sich, wenn sich Bildungsstand und Informationsmöglichkeiten ändern? Sind wir aufgeklärter und rationaler als all die murmelnden und munkelnden Erzählerinnen und Erzähler, die noch im frühen 19. Jahrhundert immer wieder gern die Geschichte von den drei wundersamen Goldstücken der Familie Hahn oder die Sage vom Ritter Harras in der Thomaskirche erzählten? Oder sind andere Mythen an die Stelle der alten getreten, die etwas moderner wirken und die Welt auf andere Weise zu erklären vorgeben, nur dass Goldschätze, Nixen und Teufel heute andere Namen haben?
Ein buntes Lesebuch für alle, die durchaus ihre heimelige Lesefreude an den Erzählungen jener Generationen haben, die heute selbst wieder fast sagenhaft wirken, so wie das Leipzig, in dem sie lebten, aus dem mit der Industrialisierung auch die Nixen, Kobolde und Zauberer vertrieben wurden.
Keine Kommentare bisher